Jenseits des Windes
frage«, sagte Leroy skeptisch, »aber wie wollen Sie den Wagen mit seiner Ladung und uns hier wegbekommen?«
Ibrik lächelte. »Genau so, wie die Valanen ein riesiges Luftschiff über dem Abgrund schweben lassen.«
Leroys Stirn legte sich in Falten. Ibrik zog ein Taschenmesser aus der Hosentasche, kaum länger als seine Hand. Ibrik setzte die Klinge an sein Handgelenk und machte einen kleinen Schnitt. Elane riss die Augen auf. Träumte sie? Dunkelrotes Blut glänzte auf Ibriks Haut und tropfte zu Boden. Er drehte sich zu seiner Frau Lotta um und nickte ihr zu, wohl um ihr ein Zeichen zu geben. Lotta schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als müsste sie sich konzentrieren. Sie hielt die Arme auf Schulterhöhe nach vorn gestreckt und drehte die Handflächen nach oben. Binnen weniger Sekunden schossen dunkelgrüne Flügel aus ihrem Rücken hervor.
Ein Windstoß packte Elane und zerzauste ihre Haare. Sie starrte auf Lotta, die mit weit gespreizten Flügeln vor dem Wagen stand und lächelte. Nie zuvor hatte Elane so etwas gesehen. Lottas Flügel ähnelten weder denen eines Vogels, noch denen eines anderen Tieres, das sie kannte. Sie spreizten sich herrlich geschwungen ab, schienen fast durchsichtig und nicht wirklich echt. Sie wirkten wie ein Trugbild, schimmerten in allen Grüntönen. Elane erwischte sich dabei, wie sie Lottas Flügel unbedingt berühren wollte, doch zugleich fürchtete sie sich davor. Respekt und Ehrfurcht hüllten sie ein, sickerten in ihr Herz. Sie hatte nie zuvor die Flügel eines Firunen gesehen und ihn fliegen schon mal gar nicht.
Lotta drehte sich um und befestigte das Ende ihres Geschirrs an dem kleinen Karren. Ibrik griff nach ihren Flügeln und zog eine winzige grüne Feder daraus hervor, die erst in dem Moment, da Ibrik sie herauszog, stofflich zu werden schien. Elane schoss die Frage durch den Kopf, ob das Ritual wohl etwas mit der Formel zu tun hatte, die Alloret seinerzeit entwickelt hatte, um die Luftschiffe fliegen zu lassen. Die Formel, die irgendwo versteckt in einem Kloster lag, und über die Zukunft der Firunen entscheiden konnte ...
Ibrik tropfte etwas von seinem Blut auf die Feder und begann, wie mit einem Pinsel seltsam geschwungene Zeichen auf die morschen Bretter des Karrens zu zeichnen. Leroy beobachtete das Spektakel mit entsetzten Blicken. Als Ibrik fertig war, spürte Elane, wie sich der Wagen eine Handbreit vom Boden löste und in der Luft schwebte.
»Keine Angst«, sagte Ibrik mit ruhiger Stimme. »Das ist dieselbe Methode, mit der man die Schiffe der Valanen zum Fliegen bringt. Oder habt ihr gedacht, die Valanen wären so mächtig, das von allein zu schaffen? Ihre Magie ist nichts im Vergleich zu unserer.« Er stieß verächtlich die Luft aus. »Viele von uns sind schon gestorben, um eure drei Schiffe in die Luft zu bekommen. Man benötigt viel Blut dazu. Euch schockiert das wohl, wie? Ja, das sollte es auch. Die ganze Welt sollte wissen, was ihr tut.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab. Elane gefror das Blut in den Adern und ihr Magen rebellierte. Sie kam sich schäbig vor, weil sie zur Rasse derer gehörte, die zu solch grausamen Dingen fähig war. Sie schämte sich zum ersten Mal, eine Valanin zu sein.
Einen Lidschlag später entfalteten sich auch Ibriks größere Flügel und schillerten gold und rot im Tageslicht. Auch er befestigte sein Geschirr an dem Karren. Elane fiel auf, dass Ibriks Kleidung am Rücken nicht beschädigt war. Dort, wo die Flügel aus seinem Körper heraustraten, schimmerten sie durchsichtig wie Nebel. Sie bestanden aus keinem stofflichen Material, sondern aus purer Magie.
Mit einem sanften Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung und sie stiegen in die Luft.
»Festhalten«, ertönte Ibriks Stimme von vorn. Elane tat, wie ihr geheißen.
Achtzehn
In Gefangenschaft
D as kalte, trübe Grau des Tages legte sich auf jedermanns Gemüt. Dichte Nebelfelder hielten sich zäh in den Senken und Mulden des kargen Landstrichs. Auf einem verkrüppelten Dornenstrauch saßen drei Krähen, die sich lauthals über die Störung beschwerten, als ein fünfzehn Mann starker Trupp an ihnen vorüberzog. Feuchtigkeit war Kjoren längst durch die Kleidung bis auf die Haut gedrungen, der schneidende Wind kühlte ihn aus, bis seine Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Die Scheuerwunden an den Fußgelenken brachten ihn um den Verstand. Der Schmerz wetteiferte mit dem Brennen an seinen Handgelenken. Dort, wo die Fesseln ihn in die Haut schnitten,
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