Jenseits von Feuerland: Roman
zögerte kurz, doch sie erschauderte nicht wie Emilia. »Ich habe keine Erinnerungen an Russland, nur, dass es dort kalt und eng war. Auf dem Schiff war es später noch kälter und noch enger. Ich hatte mehrere Geschwister, ich weiß gar nicht mehr, wie viele. Ich weiß nur, dass eins nach dem anderen gestorben ist. Eines am Husten, eines am Hunger, ein anderes fiel vom Schiff. Meine Mutter zeigte keinen Kummer – dafür war sie längst viel zu geschwächt. Und mein Vater auch nicht. Sie starben beide, als wir in Punta Arenas ankamen, ob an Ruhr oder an der Lungenkrankheit – ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich nur daran, dass ich bei ihnen hockte, als das Schiff sich langsam leerte. Wahrscheinlich wäre ich ewig dort sitzen geblieben, wenn nicht einer der Matrosen mich gefunden und weggetragen hätte. Was dann geschah, sehe ich bis heute noch ganz deutlich von mir. Jener Matrose stank erbärmlich, aber das störte mich nicht, denn zugleich war sein Körper warm und weich. Ich fasste Vertrauen zu ihm und wusste noch nicht, dass er es sein würde, der mich geradewegs in die Hölle brachte. Ich glaube, ich war damals knapp zwölf Jahre alt, aber weil ich mein Leben lang so viel gehungert hatte, sah ich aus wie acht. Ich hatte weder wohlgeformte Brüste noch Hüften, hatte nichts, was Liebreiz versprach. Das stellte im Übrigen auch der Fremde mürrisch fest, vor dem mich der Matrose schließlich abstellte. Nein, Ernestas Bordell war nicht das erste, in dem ich als Hure gearbeitet habe, sondern das dieses Mannes. Ernesta ist mitleidslos, hart und geldgierig, aber sie ist nicht ohne Moral. Nicht, dass ihr diese viele Grenzen setzt, aber ein paar eben schon. Und dazu gehört, dass sie kein Kind verschachert. Dieser Mann jedoch, an den der Matrose mich übergab, war zwar erst darüber erbost, dass mir das pralle Fleisch fehlte, meinte dann aber nachdenklich, dass ich vielleicht gerade darum Geld einbringen könnte. Ich hätte so gar nichts von einer Frau, gewiss wäre ich zwischen den Beinen noch haarlos, doch manchem gefiele genau das. Er kaufte mich also dem Matrosen ab. Tja, und dann …«
Ana machte eine kurze Pause. Sie runzelte ihre Stirn, offenbarte aber ansonsten keine Gefühle. »Und dann … dann ist es passiert. Was soll ich darüber erzählen, was ihr nicht selbst erahnen könnt? Es war schrecklich, grauenhaft, peinvoll, schmerzvoll. Aber ich überlebte es. Und als es vorüber war, war es das, was zählte. Es ist das Einzige, was zählt – zu überleben. Irgendwann konnte ich mich von diesem Mann befreien. Nein, meinem Geschick davonlaufen konnte ich nicht, aber es zumindest in eine etwas andere Richtung lenken. Ich ging zu Ernesta. Und Ernesta verlangte dasselbe von mir, was ich auch bisher tun musste – wahllos vielen Männern zu Diensten zu sein –, aber das Bett bei Ernesta ist bequemer und das Essen etwas besser. Sie will uns Mädchen verkaufen, sie will uns nicht zerstören. Bei ihr überleben die Huren ungewohnt lange – anderswo verrecken sie viel früher an Syphilis oder hängen sich auf.«
Als sie zum Ende ihrer Geschichte gekommen war, starrte Ana nicht länger auf Rita, sondern auf ihre Hände. Erst nach einem Augenblick der Stille, da sich ihre gerunzelte Stirn wieder glättete, blickte sie auf.
»Ich erzähle dir das nicht, um dein Leid kleinzureden«, sagte sie leise. »Was hilft es einem zu wissen, dass es immer noch schlimmer kommen kann? Dass im Schlechten stets eine Steigerung möglich ist – während sie im Guten so selten geschieht? Nein, ich will dich nicht trösten, das maße ich mir nicht an, aber ich will dir eines raten: Du darfst ihnen nicht die Macht über dich geben. Esteban und Jerónimo haben dir schreckliche Pein zugefügt und dir so vieles genommen – deine Würde, deine Ehre, deine Vertrauensseligkeit. Aber dein Leben ist deins, und du entscheidest, was du daraus machst, nicht sie. Sie haben mit deinem Körper gemacht, was sie wollten – aber du gehörst ihnen nicht. Dies ist die erste Lektion, die ich auf dieser Welt gelernt habe, und ich will sie nie vergessen: Was immer all die Männer mit mir machen – es ist nur mein Körper, den sie kaufen können, ich hingegen gehöre ihnen nicht. Ich gehöre nur mir selbst.«
Ein trotziger Zug lag um die Lippen, und Emilia hatte keine Ahnung, was dahinter lauerte: War sie überzeugt von dem, was sie sagte, und stolz darauf? Oder balancierte sie doch nur haarscharf an Verzweiflung, Angst und Abscheu
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