Jenseits von Feuerland: Roman
vorbei?
Emilia hielt den Atem an, als Rita sich plötzlich etwas regte. Kaum merklich wandte sie den Kopf zur Seite, starrte nicht länger zur Decke, sondern suchte Anas Blick.
»Aber … aber ich habe es verdient.«
Emilia stürzte zu ihr und griff nach ihrer Hand. Sie war so froh, überhaupt ihre Stimme zu hören, dass sie zunächst nicht darauf achtete, was Rita da sagte.
Doch dann wiederholte sie es immer wieder: »Ich habe es verdient. Ich habe es doch verdient.«
»Was redest du da?«, rief Emilia entsetzt.
Rita erwiderte den Druck ihrer Hand nicht. Nach den Worten kam ein sonderlicher Laut aus ihrem Mund – halb Lachen, halb Schluchzen. »Weißt du, wie er mich genannt hat?«, stieß sie aus, und die dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Jerónimo, die Liebe meines Lebens? Er hat mich Rothaut genannt. Indianerhure. Er hat mit mir nur gespielt – genauso wie ich gespielt habe. Ich habe gespielt, dass ich eine Spanierin bin, keine Mapuche. Ich habe mit den Lügen begonnen. Und deswegen habe ich es verdient.«
Emilia blieben alle beschwichtigenden Worte in der Kehle stecken.
»Unsinn!«, fuhr Ana an ihrer statt auf. »Was zählt deine Herkunft? Es spielt keine Rolle, woher du kommst und wer du bist. Niemand hat das Recht, dir Gewalt anzutun!«
Rita schloss ihre Augen, so dass die Tränen nicht über ihre Wangen flossen. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Blick starr und dunkel, und sie sah an Emilia und Ana vorbei.
»Ich bin Teil eines Volkes, das die Soldaten vom Erdboden tilgen wollen«, murmelte sie. »Ich hätte ihnen nicht entkommen dürfen. Ich bin nichts wert. Ich habe es nicht verdient, zu überleben.«
Ehe Ritas Züge wieder erstarrten, blitzte etwas in ihnen auf, das Emilia tief verstörte: Es war blanker Hass – doch nicht etwa Hass auf Jerónimo oder Esteban, vielmehr Hass auf sich selbst.
Emilia nahm kaum wahr, wie Ana weiterhin auf Rita einredete, sie zu beschwören versuchte, sich nicht aufzugeben und sich nicht ihr Leben stehlen zu lassen. Sie ließ ihre Hand los, stand auf und wankte zur Tür. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, was Rita durchgemacht hatte, diese Ängste, diese Schmerzen, diese Schande – aber eins war so vertraut: Abscheu vor sich selbst. Das Gefühl, man sei es nicht wert, man habe es nicht verdient – ob nun das Glück oder einfach nur das Leben.
Emilia stürzte auf den Gang hinaus. Es war ihr unerträglich, noch einen Augenblick länger in diesem Raum zu bleiben. Sie wusste, sie sollte versuchen, Rita zu trösten, ihr Mut machen, genauso wie Ana es tat, aber sie konnte es nicht.
Ihre Beine drohten nachzugeben, sie lehnte sich an die Wand und fühlte, wie ihr Körper sich vor Übelkeit verkrampfte. Irgendwie war es ihr gelungen, es in den letzten Tagen zu verdrängen – doch nun ließ sich dieser Gedanke nicht mehr in Schach halten.
Hatte ihre Mutter damals ebenso hoffnungslos ausgesehen wie heute Rita? Ihre Mutter Greta, die von ihrem eigenen Bruder Viktor vergewaltigt worden war? Hatte sie sich auch die Schuld an dem gegeben, was ihr zugestoßen war? Hatte sie sich selbst gehasst wie Rita?
Solange Greta gelebt hatte, war es Emilia stets schwergefallen, sie zu verstehen und es mit ihr auszuhalten. Und auch als sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hatte, hatte sie sich kaum Gedanken über die Mutter gemacht, sondern lediglich darüber, was die Wahrheit für ihr eigenes Leben bedeutete. Nun aber ahnte sie, wie viel Schmerz und Ekel Greta durchlitten haben musste, ahnte, woher deren Zerrissenheit kam, wann immer sie sie, Emilia, angeblickt hatte. Vielleicht hatte sie es zu bekämpfen versucht, aber es musste da gewesen sein: dieses tiefe Grauen, das der eigene Körper, das eigene Fleisch und Blut in ihr beschworen – gleiches Grauen, das nun auch Emilia überkam, als sie an die rohe Gewalt dachte, aus der sie hervorgegangen war.
Sie schrie, um nicht zu weinen, und weinte schließlich doch. Sie konnte auch dann nicht aufhören, als eine Stimme sie traf.
»Emilia?«
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie nicht länger allein war, dass jemand – von ihrem Schluchzen angelockt – sein Zimmer verlassen hatte und nun vorsichtig zu ihr trat. Sie fuhr herum und erkannte Arthur. Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, konnte jedoch nicht verhindern, dass neue aus ihren Augen rannen und dass ihre Schultern bebten.
»Was ist passiert?«, fragte er leise.
»Was passiert ist?«, schrie sie. »Das weißt du doch! Diese
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