Jenseits von Feuerland: Roman
lesen. Doch Emilia hatte heute keine Zeit. Nicht zum Lesen oder Plaudern. Arbeiten wollte sie, viel arbeiten, um ihren Geist zu betäuben und die Stimme der Mutter zum Schweigen zu bringen. Noch ehe Rita eine Frage stellen konnte, schüttelte sie den Kopf, und Rita bedrängte sie nicht, sondern setzte sich neben ihr ins Gras und blickte sie schweigsam aus den großen, dunklen, immer irgendwie traurigen Augen an.
Zu Mittag bot Emilia Annelie an, ihr beim Kochen zu helfen. Sie wartete ihre Zustimmung nicht ab, sondern griff schon nach einer der Möhren, um sie zu schälen, allerdings so fahrig, dass sie sich fast in die Finger schnitt.
Annelie war die Ungeschicklichkeit nicht entgangen. Doch sie lächelte nur milde. »Bist du aufgeregt?«, fragte sie.
Emilia fühlte sich ertappt und zuckte zusammen. »Warum sollte ich aufgeregt sein?«, fuhr sie auf – und bereute schon im nächsten Augenblick, so barsch geklungen zu haben.
Aber Annelie war ihr nicht böse. »Nun, weil du in fünf Tagen heiratest«, sagte sie lächelnd.
Emilia errötete. Nur mehr fünf Tage!
Bis jetzt hatte sie jeden Tag, ja, jede Stunde gezählt, bis sie endlich Manuels Frau wurde, nur heute hatte sie gar nicht daran gedacht. Als sie Annelies Lächeln erwiderte, hatte sie das Gefühl, die Welt würde wieder lichter werden und die Schatten des Traumes endgültig von ihr abfallen. Ja, sie würde Manuels Frau werden. Und Greta würde es nicht verhindern können.
Das Frühstück hatte sie ausgespart – nun konnte sie mit gutem Appetit essen, und mit neuen Lebenskräften versehen, lockte sie Rita nach dem Mittagessen nach oben in die Schlafstube. Seit das Mädchen wieder aufstehen konnte, verbrachten sie tagsüber keine Zeit mehr dort, aber jetzt wollte sie ihr unbedingt etwas zeigen.
»Liest du … liest du mir nun wieder vor?«, fragte Rita.
Emilia musste lächeln, weil Rita, obwohl sie selbst passabel lesen konnte, es so sehr liebte, vorgelesen zu bekommen. Dann schüttelte sie den Kopf: »Nein«, sagte sie, »ich habe eine viel bessere Idee. Ich will dir etwas zeigen.«
»Was?«
»Schau selbst!«
Wortlos trat Emilia zu einer der Kleidertruhen. Ihr Deckel war mit aufwendigen Schnitzereien versehen. Manuels vor vielen Jahren verstorbener Vater Lukas, ein begnadeter Zimmermann, wie es hieß, hatte sie einst angefertigt. In den letzten Wochen hatte Emilia nicht gewagt, diese Truhe zu öffnen, denn sie beherbergte einen viel zu kostbaren Schatz. Doch nun musste sie es einfach wieder sehen, musste es fühlen – das Kleid, das Barbara für ihre Hochzeit genäht hatte!
Als sie die Truhe öffnete und es langsam herauszog, starrte Rita hingerissen darauf.
»Sieh nur!«, rief Emilia stolz. »Wie fein es ist! Es hat Spitzen und …«
Die Stimme versagte ihr vor Aufregung. Röte stieg ihr ins Gesicht. Wie dumm sie heute Morgen gewesen war, sich die Laune von einem Traum verderben zu lassen, da sie doch so bald heiraten würde! Den Mann, den sie ihr Leben lang liebte! Und obendrein in diesem schönen Kleid!
»Bis jetzt habe ich es erst zwei Mal anprobiert«, sagte Emilia. »Barbara hat in der Zwischenzeit den Kragen noch enger genäht und ihn mit noch mehr Spitzen eingefasst. Mit Spitzen, die wir in Valdivia gekauft haben.«
Rita starrte prüfend auf ihre Hände. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie sauber waren, fuhr sie über den Stoff, nein streichelte ihn, als wäre er ein zartes, kleines Tier.
»Es ist wunderschön!«, stieß sie aus.
»Ich freue mich so, wenn Manuel mich erst darin sehen wird!«, sprach Emilia atemlos. »Und auch mein Vater. Er ist so oft unterwegs, fast nie zu Hause, aber er wird in den nächsten Tagen eintreffen. Und gewiss kommt auch Manuels Mutter. Sie heißt Elisa und lebt seit einiger Zeit in Valparaíso. Ich weiß nicht genau, warum. Manuel meint, sie fühle sich seit geraumer Zeit etwas krank, und die Seeluft täte ihr gut …«
Rita konnte nicht aufhören, ehrfürchtig über den Stoff zu streicheln. »Er ist wirklich so weich …«, stammelte sie.
»Feinstes Leinen!«, rief Emilia stolz. »Annelie hat ihn gekauft.«
»Die Frauen in unserem Dorf tragen bei der Hochzeit …«
Mitten im Satz brach Rita ab und schüttelte den Kopf.
»Ja?«, fragte Emilia. »Was tragen sie?«
»Das ist nicht so wichtig«, erklärte Rita hastig. »Und es zählt jetzt auch nicht mehr. Zeig mir lieber, wie das Kleid an dir aussieht. Zieh es an!«
Emilia zögerte kurz und schüttelte energisch den Kopf, aber als
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