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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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erworben hatten.
    Als Arthur diese Reise vorgeschlagen hatte, war Emilia skeptisch gewesen. Nach Punta Arenas zu reiten und ihn dort zu suchen war das eine – für diesen Zweck verließ sie die Estancia gerne für einige Zeit. Aber nun einfach mit ihm unterwegs zu sein, ohne klares Ziel und ohne Zweck, nur, um zum eigenen Vergnügen das Land zu erforschen, erschien ihr als lächerliches Ansinnen, das sie zunächst entschieden zurückgewiesen hatte. Doch er hatte sie so lange geneckt und gelästert, dass sie wohl Angst vor Pferden hätte, bis sie schließlich nachgab – weniger aus Neugierde, fremdes Gebiet zu erforschen, sondern aus Stolz.
    Nun war sie froh, hier zu sein – vier kostbare Tage lang, da sie sich vor der Welt und vor den Pflichten, die dort auf sie warteten, davonstehlen konnte. Emilia atmete tief die klare Luft ein, entschied, nicht länger daran zu denken, welche Arbeiten sie versäumte, und nahm sich fest vor, die Zeit zu genießen.
    Vier Tage vergingen auf der Estancia meist schnell – hier in der Stille und der Einsamkeit kamen sie ihr wie eine Ewigkeit vor. Es gab nichts zu tun – und zugleich so vieles: durch Wälder zu reiten und an verkümmerten Bäumen entlang. Die Gletscherseen zu bewundern, die sich blaugrün färbten, wenn die Sonne auf sie fiel, schwarz, wenn sich Wolken am Himmel zusammenbrauten, oder glasig wie Eis, wenn der Himmel hinter Dunst verblasste. Sie hörten Getöse, wenn in der Ferne meterhohe Eisblöcke aus der Eiswand brachen, um später lautlos im Wasser zu treiben, hörten die Schreie von Kondoren und Guanakos, hörten Wasserfälle und Wind, glucksende Sümpfe, wenn es geregnet hatte, und brechendes Gras, wenn zu lange die Sonne darauf gestochen hatte – doch ansonsten hörten sie nichts. Sie spazierten an Nandus vorbei, sahen Füchse durch das Gebüsch huschen und ein totes Fohlen, das ein Puma angefallen hatte, ehe er von der Herde wilder Pferde vertrieben wurde. Für das Junge kam trotzdem jede Hilfe zu spät.
    An windgeschützten Stellen errichteten ihre Begleiter jeden Abend ihr Zelt, um dann ihr eigenes in ausreichender Entfernung aufzustellen und sie allein zu lassen. Emilia hatte immer geglaubt, dass sie die Einsamkeit kennen würde, dass sie wüsste, wie sich das Leben in einer Welt anfühlte, in der so viel Natur so wenigen Menschen gegenüberstand. Doch noch nie hatte sie sich so von allem Alltag losgelöst gefühlt wie jetzt. Wohin sie auch traten – man hätte bei jedem Schritt meinen können, sie wären die ersten Menschen hier. Niemand hatte hier Spuren hinterlassen, Siedlungen gegründet oder Tiere gezähmt. Einzig von Gottes Wirken gab es Zeugnisse, der die Berge aufeinandergetürmt und sie mit Schnee bedeckt hatte, der an manchen Stellen so übereifrig Farben verschwendet und an anderen so gegeizt hatte, der diesem Land so viele Gesichter gegeben hatte, die einander wankelmütig wie das Wetter abwechselten: rauh und abweisend erschien die Einöde in einer Stunde, einladend und freundlich in der nächsten.
    Anderswo war die Welt für Emilia ein Hort des Kampfes – hier war sie ein Ort des Staunens: darüber, dass etwas so schön sein konnte wie die funkelnden Schnee- und Eismassen, die zugleich Kälte und Tod verhießen. Darüber, dass die Berge, die doch aus totem, reglosem Stein waren, ihre Spitzen spielerisch zu recken schienen. Darüber, dass die Sonne, wenn sie auf- und unterging, manchmal langsam, manchmal voller Hast so viele Farben auf den Himmel zeichnete, vom blutigen Rot bis zum zarten Rosa, vom kalten Weiß bis zum geschmeidigen Orange.
    Als Arthur diesen Ausflug vorgeschlagen hatte, hatte er nicht nur im Sinn gehabt, die Torres del Paine zu sehen. Er hatte überdies gemeint, dass sie nach den letzten Monaten endlich genug Zeit haben würden – Zeit, sich zu lieben, und Zeit, miteinander zu sprechen. Ersteres fiel nicht sonderlich schwer. Ihre Körper waren einander tief vertraut und fanden selbstverständlich zueinander – auch auf dem harten Boden des Zeltes und in den sturmdurchpeitschten, kalten Nächten. Keine Fremdheit, kein Zögern stand zwischen ihnen, von einem schier endlosen Vorrat an Gier und Lust konnten sie schöpfen. Zu reden jedoch blieb eine Herausforderung – und dies nicht nur, weil die Landschaft ihnen stets aufs Neue ehrfürchtiges Schweigen abrang, sondern weil es schwerfiel, andere Worte zu finden als die trotzigen und schnippischen, wenn sie ganze Vormittage lang über unwichtige Dinge stritten –

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