Jenseits von Feuerland: Roman
schrien sie.
Rita zuckte nicht einmal zusammen. Keine Beleidigung konnte den Nebel durchdringen. Erst als die Gerichtsverhandlung begann, versuchte sie, sich ein wenig zu konzentrieren. Es gelang ihr nur schwer, und sie war erleichtert, dass alles so kurz und knapp vonstattenging. Man fragte sie nach ihrem Namen und ihrem Alter und schließlich danach, was in der Höhle passiert sei.
Sie wollte schon den Mund öffnen, schloss ihn aber wieder. Das dürre Männlein war vorgetreten und beanspruchte, es an ihrer statt zu erzählen. Rita ließ ihn gewähren. Sie flüchtete sich wieder in den Nebel und hörte gar nicht zu, ob er die richtigen Worte wählte. Irgendwo unter den Zuhörern musste Balthasar sitzen, obwohl sie es ihm eigentlich untersagt hatte, doch sie hob ihren Kopf nicht, um seinen Blick zu suchen.
Als das dürre Männlein geendigt hatte, wurde Jerónimo in den Zeugenstand gerufen. Seine graublauen Augen gruben sich förmlich in Rita, aber obwohl sie seinen Blick spürte, machte ihr dieser nichts aus. Der Nebel erlöste sie nicht nur vor sämtlicher Todesangst, sondern raubte ihr auch alle Erinnerungen. Jerónimo erschien ihr wie ein Fremder. Er war weder der Mann, den sie geliebt hatte, noch der Mann, der ihr schlimmste Gewalt angetan hatte. Er war einfach nur ein Lügner, der nun erklärte, was für ein ehrenwerter, tüchtiger Mann Esteban Ayarza gewesen wäre. Als er ihn immer ausschweifender rühmte, brachte der Richter ihn zum Schweigen. Er solle nur erzählen, was sich in der Höhle zugetragen hätte – mehr nicht.
Kurz schien Jerónimo irritiert, dann erzählte er umso bereitwilliger, wie er herbeigeeilt, aber leider zu spät gekommen sei, wie er den Schuss gehört und dann gesehen habe, wie Esteban in einer Blutlache lag. Rita sei noch vor ihm gestanden. Die Pistole habe sie hingegen längst fallen gelassen.
Der Richter blieb ausdruckslos. Rita hatte ihn zu Beginn der Verhandlung eingehend betrachtet, aber sie wusste, dass sie sich sein Gesicht nicht merken würde. Wozu auch? Im Augenblick ihres Todes würde sie keine fremden Gesichter heraufbeschwören. Sie würde nur die vertrauten vor sich sehen. Das Gesicht von Balthasar, Ana, Maril, Emilia, Aurelia, Pedro, Don Andrea …
Ja, schon jetzt sah sie diese Gesichter vor sich und hauchte ihnen ein Lebewohl zu. Sie hörte darum kaum, wie plötzlich ein Tumult im Gerichtssaal ausbrach. Erst verspätet drang Balthasars Stimme durch den Nebel, wie er Jerónimo als dreckigen Lügner beschimpfte und dann den Richter anflehte, Rita zu befragen, warum sie denn auf Esteban geschossen hätte.
Das Gesicht des Richters wurde ärgerlich.
Wenn er sich nicht beruhigen würde, erklärte er in Balthasars Richtung, würde er ihn gewaltsam hinausbringen lassen.
Sei still, hätte Rita ihm am liebsten zugerufen, sei doch still, es bringt doch nichts … es ist vorbei …
Auch wenn sie nichts sagte, schließlich war Balthasar tatsächlich still. Entweder ergab er sich dem Richter oder der eigenen Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit.
»Ich werde nun das Urteil verkünden, das im Namen des chilenischen Volkes ergeht …«, setzte der Richter an.
Er machte eine kurze Pause. Oder redete er vielleicht weiter und sie war taub dafür?
Das konnte zwar nicht sein, denn sie hörte ja etwas – hörte eine andere Stimme, nicht die des Richters, des dürren Anwalts, nicht Jerónimos oder Balthasars.
Sie hörte eine vertraute Stimme, die dem Richter ins Wort fiel, so dass er das Urteil nicht verkünden konnte.
Jemand war in den Gerichtssaal gekommen, schritt nun den Mittelgang entlang. Rita hob den Kopf, und plötzlich zerriss der Nebelschleier, der sich über sie gelegt hatte.
»Nein!«, hörte sie jemanden rufen. »Sie dürfen sie nicht verurteilen! Sie ist unschuldig! Was ihr zu Last gelegt wird, habe ich getan. Ich will ein Geständnis ablegen!«
38. Kapitel
E s sieht nicht gut für ihn aus.«
Emilia hatte Nora nicht kommen gehört und sprang auf, als diese ihr sachte die Hand auf die Schulter legte.
»Nicht, nicht!«, sagte sie sanft. »Bleiben Sie bei ihm. Ich denke, das ist das Einzige, was Sie jetzt noch tun können.«
Emilia nickte schwach. Bis vor kurzem hatte sie sich noch entschieden geweigert, einzusehen, dass Arthur die Krankheit besonders schlimm getroffen hatte. Keine Behandlungsmöglichkeit hatte sie ausgelassen, um ihn zu retten. Sie wusste: Ein Cholerakranker konnte nur überleben, wenn es gelang, das Gift der Krankheit aus seinem Körper zu
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