Jenseits von Feuerland: Roman
durchqueren, wo Ernestas Mädchen schliefen und arbeiteten, und auch der Anblick des Saloons, wo sie einst vor so vielen Betrunkenen getanzt und gegirrt hatte, nach außen scheinbar ausgelassen, innerlich wie tot, war halbwegs erträglich. Doch Ernestas Wohnung bereitete ihr Qualen. Sie schien mit noch mehr Kostbarkeiten vollgestopft zu sein als beim letzten Mal, desgleichen wie Ernesta mit noch mehr Schmuck und Pelz behangen war, und nach dem freien Leben auf der Estancia glaubte Ana, in dieser Enge keinen Schritt gehen zu können. Ja, dies war das Schlimmste: nicht die Erinnerungen an ihr Dasein als Hure, sondern die Erinnerungen an eine Zeit, da sie nicht frei gewesen war.
Ernesta musterte sie lange – ihr Blick war stechend wie immer. »Was machst du hier?«, kläffte sie. »Brauchst du Arbeit, nun, da Rita bald hängt?«
Ana hielt dem Blick stand. So unerträglich wie die Gerüche und wie die Bilder, die vor ihr aufstiegen, waren die Gefühle, die Ernestas Anblick verursachte. Gewiss, sie hatte stets einen gewissen Respekt für die Frau empfunden, die es geschafft hatte, der Armut zu entrinnen und zu einer der reichsten Frauen von Punta Arenas zu werden, die nie selbst als Hure arbeiten musste, sondern – geschäftstüchtig und skrupellos, wie sie war – einen Weg gefunden hatte, andere an ihrer statt die Beine breit machen zu lassen. Zu diesem Respekt gesellte sich Dankbarkeit, widerstrebende zwar, aber aufrichtige: Ernesta hatte sie zwar ausgebeutet wie die anderen Mädchen auch, war gleichgültig gewesen, wie sie es verkrafteten, und hatte immer nur vor Augen, was es ihr selbst einbrachte, doch die Lust am Quälen war ihr fremd. Es war ihr wichtig gewesen, selbst an einem dunklen Ort wie ihrem Bordell ein Mindestmaß an Ordnung und Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Man durfte ihre Mädchen benützen – betrügen und schlagen durfte man sie nicht, sonst schritt sie ein. Und dennoch: Nicht minder stark und langlebig wie diese Dankbarkeit und der Respekt hegte Ana tiefste Verachtung für die Frau, die hier im obersten Geschoss hockte wie eine Spinne, die Geld hortete, das sie eigentlich nicht brauchte, sich ihr Gesicht mit Farbe bemalte, obwohl sie niemandem gefallen wollte, und sich ihre Wohnung mit Mobiliar vollstellte, obwohl ihr Blick, wenn er darauf fiel, kalt und stechend blieb und nicht die geringste Freude zeigte.
Dieser Blick glitt nun über ihre Gestalt. »Du bist nicht mehr die Jüngste, Ana. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir das schon bei unserer letzten Begegnung gesagt: dass die Männer nämlich junge und frische Huren wollen, denen man nicht ansieht, wie oft sie schon genommen worden sind.«
»Ich bin nicht hier, um für dich zu arbeiten«, entgegnete Ana scharf. »Die Estancia wirft genügend Geld ab.«
»Stimmt … ja …«, räumte Ernesta ein. »Emilia bezahlt regelmäßig ihre Schulden ab. Wo ist sie eigentlich?«
»In Hamburg.«
Ernesta nickte nachdenklich. »Das ist vielleicht besser so. Sie könnte Rita auch nicht helfen.«
Das Gefühl zu ersticken wurde übermächtig. Um sich den Geschmack des süßlichen Parfüms zu ersparen, hatte Ana bislang kaum zu atmen gewagt. Doch nun musste sie einen tiefen Zug machen, weil sonst ihre Brust unter dem Druck bersten würde.
»Kennst du ihn?«, presste sie schließlich hervor.
Ernesta gab sich gelangweilt. Als Ana gekommen war, war sie aufgestanden, nun nahm sie wieder auf einer Chaiselongue Platz. Auf dem riesigen Möbelstück schien sie nahezu zu schrumpfen und wirkte noch winziger und buckliger als stehend. »Wen?«, fragte sie knapp.
»Den Richter.«
Ernesta lachte freudlos auf. »Ach, darum bist du hier!«, rief sie. »Aber wenn du darauf zählst, dass er ein dunkles Geheimnis hütet, das man gegen ihn nutzen könnte, dann muss ich dich enttäuschen.«
Ana versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Worte sie entmutigten. Das war tatsächlich ihre große Hoffnung gewesen, die sie hierhergetrieben hatte. Balthasar hatte wieder und wieder versucht, mit dem Vize-Consul zu reden und ihn dazu zu bringen, sich für Rita einzusetzen, aber insgeheim glaubte er wohl selbst nicht mehr, damit Erfolg zu haben. Ana war von Anfang an klar gewesen: Wenn jemand in Punta Arenas helfen konnte, dann Ernesta mit ihren Beziehungen und mit den vielen Geheimnissen, die sie in Erfahrung gebracht hatte und geschickt gegen Menschen ausspielte.
»Rita braucht für die Gerichtsverhandlung einen Anwalt«, sagte Ana leise.
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