Jenseits von Feuerland: Roman
stur geradeaus. »Ich hatte immer zwei Wünsche. Manuel zu heiraten … und nach Deutschland zu gehen. Dorthin will ich jetzt. Nach Deutschland.«
»Deutschland«, echote Rita. Sie war mit Geschichten von Siedlern aufgewachsen, die ihre Heimat Deutschland verlassen und sich hier in Chile niedergelassen hatten, doch sie hatte nie darüber nachgedacht, wo dieses Land lag und wie es aussah. Glich seine Landschaft dem Seengebiet? Oder den Hochebenen, von denen sie stammte? War es dort wärmer oder viel kälter? Lag dort Schnee? In ihrem Dorf war so gut wie nie einer gefallen, aber die Spitzen der Anden, die es umgaben, glitzerten stets weiß …
Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu vertreiben.
»Die Frauen in Deutschland tragen Locken mit Plätteisen gemacht und schöne Kleider, viel schönere als hier«, murmelte Emilia. Es klang nicht begeistert, eher wie auswendig gelernt, und erst als sie schwieg, schlich sich Wehmut in ihr Gesicht.
»Ich bleibe bei dir«, bekräftigte Rita wieder.
Die Wehmut schwand. Emilia biss sich auf die Lippen und nickte schweigend.
»Und ich glaube«, setzte Rita hinzu, weil sie das Schweigen nicht ertrug, »ich glaube, eines der Bücher, die du mir gegeben hast, spielt in Deutschland. Es ist keine Fabel und kein Märchen, es ist …« Sie errötete, dergleichen hatte sie in der Mission nie gelesen, »es geht um eine Frau, die einen Mann liebt, und dieser Mann …« Abermals brach sie ab, diesmal nicht aus Verlegenheit, sondern aus Rücksicht. Wie konnte sie von Liebe sprechen, obwohl Emilia gerade Manuel verlassen hatte!
Emilia kniff die Lippen noch fester aufeinander und nickte schweigend.
»Ich habe es mitgenommen«, brach es aus Rita hervor.
»Was?«
»Das … das Buch. Ich wollte doch wissen, wie es ausgeht.« Rita spürte, wie ihr Röte ins Gesicht stieg.
»Annelie wird es verschmerzen«, meinte Emilia leichtfertig.
Rita seufzte. Durch die Baumstämme schimmerte in der Ferne der See – nur mehr ein schmales blaues Band, das sie zum letzten Mal für lange Zeit, vielleicht für immer sehen würde.
»Wir gehen also nach Deutschland«, bekräftigte Rita, um sich Mut zu machen.
»So leicht ist es nicht«, schränkte Emilia ein. »Um nach Deutschland zu kommen, muss man zwei Ozeane überqueren. Das ist eine lange und gefährliche Reise, und vor allem eine teure. Ich habe nicht so viel Geld. Aber wenn wir erst einmal einen Hafen erreichen, sehen wir weiter. Irgendwie wird es … muss es uns gelingen, genug für die Überfahrt zu verdienen. Ich glaube, der nächste große Hafen ist Corral.«
Unwillkürlich erschauderte Rita. Sie hatte noch nie das Meer gesehen, nur gehört, dass es noch weiter und wilder wäre als der große See. Sie versuchte, es sich vorzustellen, und versäumte darum, noch mehr Fragen zu stellen; irgendwann hatte sie die rechte Gelegenheit dazu verpasst, und Emilia sagte von sich aus in den nächsten Stunden und Tagen kein Wort mehr.
Das Meer war nicht nur so weit und wild, wie es ihr Vater Quidel erzählt hatte – sein Rauschen war obendrein so laut, dass man in der Nähe der brechenden Wellen kaum das eigene Wort verstand. Es war nicht strahlend blau und von weißem Schaum gekrönt, sondern von einem dunklen, dreckigen Grün, das die Gischt gräulich färbte.
Rita starrte ohne rechte Begeisterung auf den Ozean – und hörte Emilia das erste Mal seit Tagen lachen.
»Dir geht’s wie mir«, rief sie. »Als ich das erste Mal das Meer sah, hatte ich Angst davor.«
So herzlich und scherzhaft diese Worte geklungen hatten, schon im nächsten Augenblick schien ihr wieder einzufallen, warum sie hier waren. Sie verstummte, das Lächeln schwand von ihren Lippen. Ob sie immer noch Angst vor dem Meer hatte, sagte sie nicht.
Rita wandte sich von der Küste ab. Der Hafen von Corral war von Bergen eingeschlossen – nicht so hoch wie die Anden zwar und auf den Spitzen nicht weiß verschneit, aber trotzdem ein vertrauter Anblick. Die letzten Tage waren warm gewesen, und der Frühling hatte auch hier sein buntes Kleid über Bäume und Wiesen gestülpt. Zwischen den zahlreichen Häusern blühten Apfelbäume und Myrten. Bunte Vögel flatterten in deren Geäst.
So schön dies anzusehen war – die Massen an Menschen machten Rita Angst. Noch nie hatte sie so viele auf einem Fleckchen Erde gesehen, wie sie da hektisch umherliefen – Frauen mit Tuch und Kattun, Kinder mit weißen Hosen, Arbeiter mit Lumpen und Beamte mit vornehmer Kleidung. In
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