Jenseits von Feuerland: Roman
einem unterschieden sie sich alle von den Deutschen am Llanquihue-See – sie trugen keine Schuhe, und bei ihrem Anblick begannen Rita prompt die Füße zu jucken. Am liebsten hätte sie sich sofort die Stiefel ausgezogen. Allerdings hätte man dann erkannt, dass ihre Füße viel zu klein und zu zart für die eines Mannes waren – und als solchen gab sie sich schließlich aus. Wenigstens trug sie nur Schnürstiefel, nicht auch noch Strümpfe wie vor dem Aufbruch.
»Wie niedrig die Häuser sind!«, rief Emilia aus. »In Valdivia gibt es zweistöckige Häuser – hier jedoch nicht.«
Rita folgte ihrem Blick und fand, dass die Häuser – die meisten nur aus Holz, einige jedoch aus Stein gebaut – dennoch sehr groß waren, viel größer in jedem Fall als ihre Ruca. So sehr ins Staunen versunken, bemerkte sie nicht, dass sich von hinten eine Kutsche näherte. Eben waren sie von ihren Pferden gestiegen, standen nun mitten auf der Straße, und erst im letzten Augenblick sprang Rita, vom Fluchen des Kutschers ebenso alarmiert wie von Emilias entsetztem Aufschrei, zur Seite.
»Kann der denn nicht achtgeben!«, schrie Emilia erbost und hob die Faust. Rita war sich nicht ganz sicher, ob sie sich tatsächlich ärgerte oder ob sie nur ihrer Rolle als Mann gerecht werden wollte.
In jedem Fall achtete sie nun besser auf die Straße, auf der viele Pferdekutschen und Ochsenkarren fuhren. Entweder kamen sie vom Hafen oder waren dorthin unterwegs, um Waren entgegenzunehmen – Waren von großen Dampfschiffen, wie Rita sie zum ersten Mal sah, oder kleinen Schaluppen von Fischern. Im Hafen konnte man das Meer kaum sehen, so verstellt war es von den vielen Holzmasten und Segeln; nur der durchdringende Geruch nach Fisch und Algen verriet die Nähe des Ozeans – salzig und leicht faulig. Rita gewöhnte sich rasch daran und fand den Gestank erträglicher als das bedrohliche Tosen der Wellen. Doch gerade als sie sich etwas zu entspannen begann, sich mehr und mehr an die Menschenmassen gewöhnte, erblickte sie etwas, was sie erst erstarren, dann ruckartig herumfahren und schließlich panischen Schrittes davonlaufen ließ, ehe sie Emilia sagen konnte, was sie so erschreckte.
Nur weg!, tönte es in ihrem Kopf. Nur weg!
Sie hörte kaum, dass Emilia ihr etwas nachschrie, und merkte erst viel später, dass sie die Zügel ihres Pferdes losgelassen und das Tier, obwohl teuer gekauft, einfach stehen gelassen hatte. Was nutzte ihr auch das Pferd, es würde sie nicht retten, niemand würde sie retten vor diesen …
Nein, sie konnte es nicht denken, nicht aussprechen, konnte einfach nur fliehen – vor diesem Grauen, das sie überwunden geglaubt hatte und das nun wieder hochstieg. Die Schüsse und Schreie in ihren Erinnerungen waren plötzlich viel lauter, als das Meer und das Menschengewirr jemals sein konnten.
»Rita!«
Emilias Stimme war das Einzige, das durch das Grauen drang. Stehen bleiben und sich ihr erklären konnte sie dennoch nicht. Sie rannte weiter, immer weiter, auch dann noch, als Emilia sie einholte und aufzuhalten versuchte. In der Ferne wieherten die Pferde.
»Rita!«
Emilia packte sie schmerzhaft am Arm.
»Was läufst du denn davon, als würdest du vom Teufel gejagt?«
Rita erstarrte. Ja, sie wurde vom Teufel gejagt, von Dämonen in Gestalt von Soldaten – Soldaten mit grauen Uniformen, verdreckten Stiefeln, braungebrannten und verschorften Gesichtern, die im Hafen von Corral herumlungerten. Sie glichen jenen Männern, die ihre Mission überfallen hatten, bis aufs Haar.
»Sag mir endlich, was los ist!«, herrschte Emilia sie an.
Rita konnte nicht antworten, konnte nur stumm und zitternd in die Richtung der Soldaten deuten.
Emilia folgte ihrem Blick und schien zu begreifen. »Du hast Angst vor diesen … Männern.«
»Getötet … sie haben alle getötet …«
Emilia starrte sie verständnislos an – und da erst begriff Rita, dass sie die Worte nicht in Deutsch oder Spanisch, sondern auf Mapudungun gesagt hatte.
»Das sind keine Soldaten, die das Mapuche-Gebiet erobern«, erklärte Emilia sanft und zog sie an sich. »Sie werden hier rekrutiert und Richtung Norden geschickt. Ich dachte eigentlich, er wäre schon vorbei, aber scheinbar befindet sich Chile immer noch im Krieg mit Peru und Bolivien.«
Rita war sich nicht sicher, ob sie die Namen der Länder jemals gehört hatte.
»Sie wollten auch in unserer Siedlung Soldaten rekrutieren«, fuhr Emilia fort, »aber wir haben das Geld aufgebracht, um
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