Jenseits von Feuerland: Roman
diesmal voller Überdruss. »Seit wann verzichtest du aufs Geld? Du warst doch todunglücklich, dass man mich seinerzeit aus der Armee geworfen hat. Ich wusste genau, worauf du spekuliert hast – auf meinen Heldentod nämlich. Für einen verstorbenen Soldaten bekommt seine Mutter schließlich drei Pesos im Monat, und …«
»Esteban!«, reif sie gequält. »Sag so etwas nicht! Als du in die Armee gingst, habe ich gehofft, du würdest Halt finden, nicht …«
»Ach, halt’s Maul! Ich ertrag dich nicht!«
Agustina rang hilflos mit den Händen. Als sie ihm den Weg nicht freigeben wollte, stieß er sie unsanft beiseite und lief die Treppe hinunter. Noch im Gehen wandelte sich seine Laune schlagartig. Das Letzte, was Emilia hörte, war nicht finsteres Grollen, sondern Lachen. Vielleicht ging ihm auf, was er sich mit dem Geld alles kaufen könnte – unter anderem willige Huren.
Emilia lauschte ohnmächtig, indes Rita in Tränen ausbrach und auch Agustina nun weinte.
»Es tut mir so leid, es tut mir so leid«, schluchzte sie. »Er wäre gewiss ein guter Junge geworden, wenn er nur einen Vater gehabt hätte. Es ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld.«
Emilia wusste, dass ihre Reue ehrlich war, aber sie wusste auch, dass Agustina sich niemals gegen den eigenen Sohn stellen und ihnen nicht helfen würde, das Geld zurückzubekommen. Und ihr eigener Stolz war zu groß, um weiterhin darum zu betteln.
Sie versuchte, das schmerzhafte Pochen in ihrer Wange zu ignorieren, nahm Ritas Hand und zog sie mit sich. »Komm, Rita, wir gehen. Wir haben hier nichts mehr verloren.«
Sie standen im Finstern auf der Straße, und mit jeder Stunde schien der Wind, der vom Meer kam, noch kälter zu wehen. Emilia hatte Rita ein paar Ecken weitergezogen, denn sie wollte nicht im Blickfeld von Esteban … Esteban Ayarza stehen, der sie vielleicht hinter dem Fenster beobachtete. Zugleich mied sie den Hafen, obwohl dort am meisten Menschen unterwegs waren. Der Hafen war für sie stets ein Ort der Zukunft und der Hoffnung gewesen, der Ort, von dem irgendwann ein Schiff ablegen und sie nach Deutschland bringen würde. Doch jetzt fühlte sie sich so hoffnungslos wie seit Ewigkeiten nicht mehr, und der Anblick der Ozeandampfer würde sie nicht ermutigen, sondern ihr nur vor Augen halten, dass sie ihrem Traum trotz aller Schufterei keinen Schritt näher gekommen war.
So verharrten sie im schmalen, windgeschützten Gang zwischen zwei Holzhäusern. Emilias Wange schmerzte nicht mehr, sondern fühlte sich wie taub an. Sie war nicht einfach nur müde, sondern völlig erschöpft, und ihre Zähne klapperten vor Kälte. Sie konnte nichts sagen, konnte nicht einmal fluchen, war unfähig, ihre Fassungslosigkeit in Worte zu kleiden.
Aus Rita hingegen brach die ganze Verzweiflung heraus. Sie weinte immer lauter und hilfloser: »Wo sollen wir denn jetzt nur hin?«
Emilia knirschte mit den Zähnen. »Hör zu heulen auf, das hilft uns nicht!«
»Aber was sollen wir tun?«
Emilia gestand es sich nur ungern ein, aber sie hatte keine Ahnung. All die Monate hatte sie ihre Sehnsucht unterdrückt – die Sehnsucht nach ihrer Heimat am Llanquihue-See, nach der Geborgenheit von Annelies Stube, nach Manuel mit seiner Abenteuerlust und seiner Freude, Geschäfte abzuschließen. Aber jetzt konnte sie es nicht mehr. Jetzt wollte sie einfach nur nach Hause, wollte, dass andere für sie kochten und putzten, für sie sorgten und für sie entschieden.
Warum wurde ihr das angetan? Sie hatte dergleichen nicht verdient! War sie nicht bereit gewesen, mit der Schande ihrer Herkunft zu leben? Hatte sie nicht auf ihr Glück verzichtet, um ihre Liebsten davor zu bewahren? Und hatte sie nicht bewiesen, wie tüchtig sie war, wie entschlossen, wenn auch nicht glücklich zu werden, so doch zu überleben? Rita schluchzte und schluchzte, und als Emilia im schwachen Schein der Straßenlaternen die vielen Tränen sah, die ihr über die Wangen perlten, hätte sie am liebsten in das Geheule eingestimmt. Hätte sich die Haare gerauft, wäre auf den Boden gesunken, hätte in der Erde gewühlt und Staub geschluckt.
Am Ende. Wieder einmal war sie am Ende, war die reiche, bunte, schöne Welt auf ein winziges Fleckchen geschrumpft, an dessen Rändern dunkle Abgründe lauerten.
Emilia knirschte weiterhin mit den Zähnen und verkniff sich die Tränen.
»Wir gehen zu Ernesta Villan«, entschied sie schließlich knapp.
Sie kannte manche Gesichter in Punta Arenas, doch das war der
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