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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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die er geleert hatte. Er konnte sich kaum aufrecht halten, Balthasar musste ihn stützen.
    Abseits der breiten Hauptstraßen waren die Straßen dreckig und voller Unrat. Eine klebrige Masse wucherte zwischen den Pflastersteinen, die nicht einmal der Regen wegspülen konnte. Für gewöhnlich ekelte sich Arthur vor diesem Schmutz, doch nun war er viel zu betrunken, um zu beachten, worauf er lief – Hauptsache, er schaffte es irgendwie nach Hause. Einer der viele Hunde der Stadt – räudige Streuner allesamt – kläffte sie an; in der Luft hing wie immer um diese Tageszeit Gestank, übler und durchdringender noch als der säuerliche Atem, der Arthurs Mund entströmte. Seit Jahrzehnten gab es ein Kanalisationssystem, das das Sielwasser von Binnen-Alster, kleiner Alster und Bleichenfleth hätte abfließen lassen sollen. Doch wenn es wie so oft nicht funktionierte, glich Hamburg einer riesigen Kloake. Der Gestank war nicht das Einzige, was das Atmen erschwerte. Dort, wo die Bewohner es sich nicht leisten konnten, ihre Straßen mit Wasser besprengen zu lassen, wurde die Asche aus den Höfen vom Wind verweht, verpestete die Luft und machte die Kleidung dreckig.
    Auch darüber führte Arthur im nüchternen Zustand Klagereden, doch jetzt war ihm zu übel, um sich darüber zu erregen.
    Nur mühsam kamen sie weiter.
    »Dass du dich nicht schämst!«, spottete Balthasar. »Jetzt brauchst du ausgerechnet einen Krüppel wie mich, um aufrecht gehen zu können!«
    Balthasar bezeichnete sich oft und gerne als Krüppel und noch lieber als hässlichsten Mann von ganz Hamburg. Seit er in frühen Lebensjahren an Kinderlähmung gelitten hatte, war das rechte Bein deutlich verkürzt. Wenig später war das Wohnhaus, in dem er gelebt hatte, abgebrannt, und er hatte als Einziger überlebt – allerdings von Brandwunden gezeichnet, die seine Hände und sein Gesicht für immer verunstalteten. Auch ohne Brandnarben wäre sein Gesicht nicht sonderlich ansehnlich gewesen: Seine Nase war ebenso schief gewachsen wie seine Augen und seine Backenknochen, die Zähne waren zwar weiß und gerade, aber das Kinn darunter absonderlich spitz. Er lästerte oft, dass der liebe Gott bei ihm wahllos zwei Hälften genommen und einfach zusammengestückelt hätte.
    Und Balthasar war nicht nur hässlich. Ohne Scheu gab er zu, ebenso arm zu sein und dass ihn einzig die Verwandtschaft mit den wohlhabenden Hoffmanns vor der Gosse rettete. Damals, als er beim Brand seine ganze Familie verloren hatte, hatten ihn diese aufgenommen. Für Arthur war Balthasar seitdem wie ein Bruder, von dem er einerseits erwartete, dass er ihm immer wieder aus der Patsche half, mit dem er andererseits aber auch bedenkenlos das Geld teilte, das ihm selbst von der Familie zugedacht wurde. Da Balthasar stets offenherzig darüber sprach, entstand nie falsche Scham. Von niemandem als von ihm konnte man besser lernen, dass man mit Schwächen am besten lebte, indem man sie frei benannte, anstatt sie mit aller Macht zu verbergen. Nur manchmal – wenn er nicht zu betrunken dazu war – fragte sich Arthur, ob Balthasar es ihm nicht doch manchmal neidete, dass er schöner und reicher war, bei den Frauen beliebter und dass er ohne Hinkebein durchs Leben ging.
    Eins hatte ihm Balthasar bei allem Fehlen von Schönheit und Reichtum allerdings voraus – das Talent zu zeichnen. Eigentlich schleppte er ständig den Skizzenblock mit sich, um Szenen des Lebens festzuhalten. Nur heute hatte er ihn nicht dabei – gottlob, wie sie wohl beide insgeheim dachten, denn dann hätte er seine Hände nicht frei gehabt, um Arthur zu stützen.
    Arthur röchelte.
    »Sag mir rechtzeitig, wenn du dich übergeben musst«, meinte Balthasar trocken. »Ich will nicht alles abbekommen wie beim letzten Mal.«
    »Was regst du dich auf?«, hielt Arthur ihm entgegen. In seinem Mund schmeckte es gallig. »Schließlich bin ich es doch, der all deine Kleidung bezahlt.«
    »Genau genommen, bist es nicht du, sondern dein Vater.«
    Die Rede war von Arthur Hoffmann senior, der einst die Apotheke Hoffmann & Kompagnons gegründet, sich jedoch vor vielen Jahren nach einem Herzanfall aus dem Geschäft zurückgezogen hatte und nun in einem Gartenhaus in der Wohlersallee von Altona lebte. Die Apotheke wurde seitdem von Arthurs Onkel Gustav geführt, der die Verantwortung längst an Arthur hätte abgeben wollen, der aber vom Neffen immer mit irgendeinem Grund abgespeist wurde, warum das zum jetzigen Zeitpunkt einfach unmöglich

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