Jenseits von Timbuktu
jemand gesehen? Jemand Bestimmtes?«
Nellys Augen blickten weiter ins Leere, hetzten hin und her, wie ein Tier auf der Flucht. Ihre Lippen bewegten sich, vermochten aber keine hörbaren Worte zu formen. Jill wartete schweigend. Nellys Antworten pflegten umständlich, bildhaft und ausschweifend zu sein. Sie zur Eile anzutreiben würde das Gegenteil bewirken. Vermutlich würde sie sich eine Predigt über gute Manieren unter Zulus anhören müssen. Jill platzte fast vor Ungeduld, konnte sich aber so weit beherrschen, dass Nelly nichts merkte.
Jetzt wurde der Blick der alten Zulu wieder klar, sie sah Jill an. »Es ist klein ⦠und fürchterlich anzusehen«, flüsterte sie rau und hielt ihre Hand etwa einen Meter über dem Boden, um die GröÃe anzuzeigen. »Es kann in der Luft fliegen ⦠es hat rote Augen â¦Â« Sie sog zischend den Atem ein. »Aiii â¦!« Sie schüttelte sich mit allen Anzeichen gröÃter Angst.
Jills Miene verfinsterte sich zusehends. »Nelly, komm mir jetzt nicht mit dem Tokoloshe!«, fauchte sie.
Der Tokoloshe, der böse Wasserteufel, war der schwarze Schatten, der die Nächte ihrer Kindheit verdunkelt hatte. Er wurde für alles Schlimme, für jede Missetat verantwortlich gemacht, und seine bloÃe Erwähnung lieà erwachsene Männer vor Furcht grau werden. Einen Meter etwa sollte er hoch sein, weswegen die Zulus auf dem Lande noch heute ihre Betten auf einen Meter hohe Ziegelsteintürmchen stellten. Auch Nelly. Jill hatte das schon als kleines Kind entdeckt. Auf ihre neugierige Frage hatte die Zulu damals nicht gleich geantwortet, aber bis heute erinnerte sie sich daran, dass ihr auf einmal so gewesen war, als wäre die Luft in der grasgedeckten Rundhütte dichter geworden, schwerer zu atmen, das Licht seltsam intensiv.
»Der Sangoma rammt einen feurigen Stab in den Körper eines Toten, bis der so geschrumpft ist, dass er unter den Bauch
einer Kuh passt«, hatte Nelly schlieÃlich gezischelt, und dabei hatten ihre Augen geglüht wie schwelende Kohlen, »dann schneidet er ihm die Zunge heraus und löffelt die Augen aus den Höhlen und â¦Â«
Ihre Stimme war zu einem singenden Flüstern gesunken, und jäh war Jill von einem Zittern ergriffen worden, als hätte sie hohes Fieber. In panischem Entsetzen hatte sie die Hände auf die Ohren gepresst und war aus der Hütte zu ihrer Mutter gerannt.
Lange konnte sie das Grauen nicht abschütteln, hatte noch Jahre später von diesem schaurigen Wesen geträumt. Mit Nelly hatte sie nie wieder darüber gesprochen. Erst als sie erwachsen wurde, verlor der Tokoloshe seinen Schrecken für sie und zog sich in die Schatten zurück.
Jetzt packte Jill ihre Nanny an den Armen und drehte sie zu sich. »Hast du mich gehört, Nelly? Ich will nichts von dem Tokoloshe mehr hören. Du kannst mich nicht mehr damit erschrecken. Ich bin kein kleines Mädchen mehr.«
Die Zulu hörte auf der Stelle auf, sich zu schütteln, funkelte sie stattdessen böse an und zog ein hochmütiges Gesicht. »WeiÃe wissen davon nichts.«
»Red keinen Unsinn. Du weiÃt ganz genau, dass ich hier geboren bin und du mich aufgezogen hast. Ich bin eine weiÃe Zulu. Also komm mir nicht damit, hörst du? Was hast du gesehen? Raus damit!«
Verdrossen zupfte Nelly an ihrem geblümten Kleid herum. »Es hat ein Ding auf dem Rücken wie ein Ufishi!«
»Flossen wie ein Fisch? So etwa?« Mit dem Zeigefinger zeichnete Jill eine gezackte Flosse in die Luft.
»Cha!« Die Zulu schüttelte den Kopf und beschrieb mit der Hand einen Bogen. »So rund â¦Â« Sie rollte ihre Augen Hilfe suchend himmelwärts, als könnte sie da Erleuchtung finden, und kurz darauf nickte sie triumphierend. »Wie mein Isinqe.« Mit
einem schnellen Hüftschlenker schüttelte sie ihr ausladendes Hinterteil.
»Wie dein Po? Auf dem Rücken?«
»Auf dem Rücken.« Nelly stand da, die säulenförmigen Beine breit auf den Boden gepflanzt, die Hände über ihrem beachtlichen Bauch gefaltet, das Kinn kriegerisch gehoben.
Jill versuchte sich das vorzustellen. Welches Wesen hatte einen Buckel? War es überhaupt ein Buckel? Unvermittelt kribbelte ihr ein Schauer über den Rücken, und sie bewegte unbehaglich die Schultern. Das Wahrscheinlichste war, dass Nelly dieser vermaledeite Tokoloshe im Traum
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