Jenseits
würde er sie lesen.
Ich war nicht sicher, aber ich glaubte, gehört zu haben, wie die Polizistin »D-Flügel« gemurmelt hatte. Auf jeden Fall schüttelte sie ungläubig den Kopf.
»Miss, wie auch immer Sie heißen«, sagte Santos, »die Kraft, die nötig war, um den in der bewussten Nacht verursachten Schaden herbeizuführen, entsprach ungefähr der Energie einer kleinen Handgranate. Weshalb wir bereits wissen, dass es auf keinen Fall ein Tritt gewesen sein kann, was auch immer das Schloss zerstört hat!«
Ich saß nur da und starrte meine inzwischen auch vom letzten bisschen Lack befreiten Fingernägel an.
»Tatsächlich?«, fragte ich.
Aber wer war ich schon, der Polizei zu erklären, dass sie vollkommen falsch lag? Und das zum wiederholten Mal.
»Wir sind aber ohnehin nicht hier, um über das Tor zu sprechen«, brummte Santos. »Frau Hernandez?«
Die Polizistin blätterte kurz in ihrem Notizblock, dann fragte sie monoton: »Sind Sie die Besitzerin eines blauen Cruiser-Fahrrads der Marke Sun mit weißem, blumenverziertem Korb, lilafarbenem Sattel, rotem Zahlenschloss und der Rahmennummer R-100-7511170?«
Plötzlich panisch vor Angst, schaute ich sie an. Mein Kopf war vollkommen leer. »Weiß ich nicht«, antwortete ich.
»Doch, Pierce«, meinte Tim ganz ruhig. »Du weißt es. Du und deine Mom, ihr habt genau dieses Fahrrad bei der Polizei registrieren lassen, falls es einmal gestohlen werden sollte.«
Ich blinzelte, und mein Herz begann heftiger zu schlagen denn je.
»Oh«, sagte ich. »Nun ja, ich habe schon ein blaues Fahrrad mit einem lilafarbenen Sattel, einem Korb mit Blümchen daran und einem roten Zahlenschloss und so weiter. Und ich habe es auch bei der Polizei registrieren lassen, falls es mal gestohlen wird. Aber die Seriennummer habe ich nun wirklich nicht im Kopf. Wer lernt denn schon die Seriennummer seines Fahrrads auswendig? Das ist doch, ich meine, das kann man doch nicht von den Leuten verlang …«
»Wann haben Sie dieses Fahrrad zum letzten Mal gesehen?«, unterbrach mich Santos und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.
»Letzte Nacht«, erwiderte ich. »Als ich in die Stadt gefahren bin, um …«
Ich verstummte, und das Blut stockte mir in den Adern.
Mein Fahrrad. Ich hatte es am Friedhofszaun angeschlossen. Als ich zu Richard Smith gefahren war.
»Oh, mein Gott.« Ich sprang auf und hätte beinahe meinen Stuhl umgeworfen. »Was ist passiert?«
Er war tot. Ich wusste es. Er war der Letzte, der meine Halskette in den Händen gehalten hatte.
Und jetzt war er tot.
Ich hätte es wissen müssen. Hätte wissen müssen, dass ich niemals glücklich werden würde, niemals mit ihm zurechtkommen würde. Warum sollte ausgerechnet ich in der Lage sein, eine Beziehung mit einem Totengott zu haben? Dem Herrscher einer Unterwelt? Wen hatte ich da auf den Arm nehmen wollen? Ich war ja nicht einmal in der Lage, den Tod meiner besten Freundin zu verhindern. Oder schriftlich zu dividieren. Ich konnte nicht mal Auto fahren .
»Beruhige dich, Pierce«, sagte Tim, stand auf und kam um den Tisch herum auf mich zu.
Ich fing an zu hyperventilieren.
»Ist ja gut, ist ja gut. Wir versuchen ja gerade, das herauszufinden«, redete er besänftigend auf mich ein.
»Aber was ist denn passiert?«, schrie ich. Ich spürte, wie ich einen hysterischen Anfall bekam. »Es ging ihm doch noch gut, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Es ging ihm doch noch gut, als er mich zu Hause abgesetzt hat.«
»Wem ging es noch gut?« Tim blickte den Polizeichef an, der genauso verwirrt dreinschaute wie er selbst. »Von wem sprichst du, Pierce?«
»Von Mister Smith«, erwiderte ich. Als ich an ihren Gesichtern sah, dass sie keine Ahnung hatten, wovon ich redete, flaute meine Panik etwas ab. »Dem Friedhofsaufseher. Warum? Moment. Von wem sprechen Sie denn?«
»Von Jade«, antwortete Tim sanft. »Wir suchen nach Zeugen, die sie letzte Nacht vielleicht auf dem Friedhof oder in dessen Nähe gesehen haben. Sie kam nicht von ihrer Patrouille zurück. Heute Morgen wurde sie auf dem Friedhof gefunden, tot.«
Durch mich geht’s ein zur Stadt der ew’gen Qualen,
Durch mich geht’s ein zum wehevollen Schlund,
Durch mich geht’s ein zu der Verdammniß Thalen.
Dante Alighieri, Göttliche Komödie , Dritter Gesang
D ie Durchsage kam während der Mittagspause.
Nicht wegen Jades Tod. Warum, bitte schön, hätten sie das durchsagen sollen? An der IHHS wurde ein Tod genauso wenig »hochstilisiert« wie an der Westport
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