Jenseits
Büro gelassen, wenn sie das alles auch nur geahnt hätte.
»Aber es ist doch seltsam«, sagte ich stattdessen, »dass Oma nichts davon wusste. Sie haben behauptet, jeder wüsste es, das mit John, und dass Isla Huesos genau über dieser komischen Unterwelt liegt.«
»Es gibt Wissen«, sagte Mr. Smith, »und es gibt Glauben. Ihre Großmutter wusste Bescheid über die Legenden um Johns Person, das tut jeder hier. Aber ob sie auch daran glaubte, dass diese Legenden tatsächlich der Wahrheit entsprechen? Das ist eine ganz andere Geschichte. Ihre Großmutter genießt nicht umsonst den Ruf, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen.«
Er hatte recht. Oma glaubte an nichts, das sie nicht mit eigenen Augen sehen konnte, abgesehen von dem, was in der Bibel stand. So hatte sie auch gegenüber Mom argumentiert, wegen des Lösemittels, das Dads Firma in den Golf gekippt hatte.
»Ich habe noch nicht das geringste Anzeichen davon gesehen«, hatte sie gesagt. »Und auch nichts von dem Öl, über das alle sich beschweren.«
»Genau darum geht es doch, Mutter«, hatte Mom erwidert. »Nur weil du es nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass es nicht da wäre. Und niemand weiß, welche Umweltschäden es in den nächsten Jahren noch anrichten wird.«
»In Gottes Namen, Deborah«, hatte Oma geschimpft, »ich habe einen Antrag auf Entschädigung gestellt wegen entgangener Tourismus-Einkünfte, und der Konzern hat umgehend bezahlt, jeden einzelnen Cent. Warum also sollte ich mir wegen ein paar alberner Vögel den Kopf zerbrechen?«
»Jedenfalls«, sprach Mr. Smith weiter, »favorisierten Ihr Großvater und ich die Theorie, dass es im Universum so viele John Haydens geben muss – Seelen, die aus irgendeinem Grund dazu verdammt sind, die Geister der Toten ihrem gerechten Schicksal zuzuführen –, wie es Unterwelten gibt.«
»Aber wieso bin ich dann in die Unterwelt von Isla Huesos geschickt worden, wo ich doch in Connecticut gestorben bin?«, fragte ich. »Wäre es nicht logischer, wenn ich in der Unterwelt bei, sagen wir, Bridgeport gelandet wäre?« Ich war einmal in Bridgeport gewesen. Wenn es in dieser Gegend eine Unterwelt gab, dann definitiv unterhalb von Bridgeport.
Mr. Smith dachte nach. »Sie sagten, Sie wären ihm zuvor schon einmal begegnet, als Sie sieben waren. Vielleicht ist das der Grund.«
Ich schüttelte den Kopf. Nicht etwa, weil das, was der Friedhofsaufseher sagte, nicht vollkommen logisch klang, sondern weil ich ganz einfach nicht glauben konnte, wie blind ich die ganze Zeit über gewesen war. Und wie viele Fragen ich immer noch hatte.
»Und niemand kann irgendwas tun?«, fragte ich ihn. »Wegen der Furien, meine ich. Um John zu helfen.«
Der Küster lächelte traurig. »Und was, Miss Oliviera, sollte das Ihrer Meinung nach sein? Wir sprechen hier immerhin von einem Ort, zu dem normalerweise nur die Seelen der Toten Zugang haben. Sollen wir ihn stürmen? Mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet? Wie könnten wir überhaupt dorthin gelangen, ohne vorher zu sterben?«
Ich hätte heulen können. Die Furien schienen mir eine weit schlimmere Bedrohung zu sein als die Umweltkatastrophe, die Dads Firma verursacht hatte.
»Wieso hat John überhaupt diese furchtbare Aufgabe bekommen?«, fragte ich. »Das ist nicht fair. Was hat er denn verbrochen, dass er so etwas verdient hat?«
»Das«, sagte Mr. Smith mit fester Stimme und klappte das Buch wieder zu, »werden Sie ihn schon selbst fragen müssen.«
Ich wurde rot.
»Das kann ich nicht«, erwiderte ich nur. »Er hasst mich.«
»Ach ja?« Er stand auf, ganz offensichtlich in der Absicht, das Büro nun zu verlassen. »Ich bin mir sicher, Sie irren sich in diesem Punkt.«
»Nein«, widersprach ich. »Sie verstehen mich vollkommen falsch. Ich hab ja versucht , mit ihm zu sprechen. Aber er hört mir nicht mal zu. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen für das, was passiert ist, als wir … als wir uns begegnet sind. Wegen der Tasse Tee. Und wissen Sie, was er dann gemacht hat? Er hat die Kette genommen und sie quer über den halben Friedhof geschleudert!«
»Womit nun endlich geklärt wäre«, erwiderte Mr. Smith, diesmal mit einem durchaus erfreuten Lächeln, »warum ich sie heute Morgen in der Nähe der Familiengruft der Wolkowskys fand.«
»Er ist der reinste Albtraum «, schimpfte ich weiter. Es tat so gut, endlich mal jemanden zu haben, bei dem ich alles rauslassen konnte. Jemanden, der mir tatsächlich zuhörte, und der wusste, wovon ich sprach. Zu schade
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