Jerry Cotton - 0550 - Der Unheimliche
Menschenleben nicht mehr galt als eine zertretene Ameise. Ricardo Bertolini war ein zitterndes hilfloses Bündel Mensch. »Bitte!« schrie er. »Ich sage alles, was Sie wissen wollen.«
»Wo ist das Ding?« entgegnete ich ruhig. Denn ich mag meinen Jaguar und wollte ihn nicht von ein paar wildgewordenen Gangstern in die Luft jagen lassen.
»Unter dem Anlasser«, stieß er hervor. »Beeilen Sie sich, wir haben nur noch drei Minuten.«
Ich war nicht so ruhig, wie ich mich gab. Ich klappte die Motorhaube auf. Das Päckchen war nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Es war mit Draht am Anlasser befestigt. Als ich mich über den Motorblock beugte, hörte ich ein feines Ticken.
Mit der Kombizange löste ich die Drahtverbindung und warf die Schachtel in weitem Bogen in die Wiese.
Nichts geschah…
Bluff! wollte ich gerade sagen. Da explodierte die Ladung. Ein paar Erdbrocken flogen mir um die Ohren, und als ich Ricardo Bertolini ansah, bemerkte ich, daß er grün im Gesicht geworden war. Es war soweit, und ich wußte, daß ich jetzt alles aus ihm herausholen konnte. Die letzten Minuten hatten seinen Widerstand gebrochen.
Ich steckte ihm eine Zigarette zwischen die Lippen und setzte mich neben ihn. Und dann erzählte er mir alles das, was er vorher vergessen hatte.
***
Es war zwei Uhr nachts. Am Broadway und in der Fifth Avenue brodelte der Vergnügungsverkehr einer satten Weltstadt. Luxuslimousinen glitten lautlos über den Asphalt, hielten vor mondänen Nachtlokalen und fuhren auf irgendeinen Parkplatz, nachdem sie ihre brillantengeschmückte und pelzverbrämte Fracht ausgespuckt hatten. New York tanzte, trank, spielte und… langweilte sich, so wie immer.
Knapp zwei Meilen südlich des Vergnügungsviertels sah es ganz anders aus. Die Gesichter der Menschen, die sich in den Kaschemmen von Chinatown herumdrückten, waren grau vor Angst. Gleichzeitig lag eine gewisse Spannung darin. Und Neugier.
Es tat sich etwas in New York. Aber niemand wußte, was es war. Keiner mochte ein Geschäft abschließen, auch wenn ein noch so großer Gewinn lockte.
Ganoven, die seit Tagen auf dem trockenen saßen, lehnten jeden Job ab, der ihnen angeboten wurde. Sie warteten auf ein bestimmtes Stichwort. Sie warteten, aßen und tranken, ohne dafür auch nur einen lausigen Cent zu bezahlen.
Einer bezahlte für sie…
Einer, der sich anschickte, auf seine Weise die Macht in der Riesenstadt an sich zu reißen.
Niemand wußte, von wo aus er seine Befehle gab. In Kommandozentralen, die sich meistens in Kellerräumen oder in Hinterzimmern obskurer Kneipen niedergelassen hatten, wartete man auf die Stunde X. Auf die Stunde der Wahrheit.
Sie kam genau um vier Uhr dreißig.
Neun Köpfe ruckten wie von einer Schnur gezogen herum, als sich die Tür des Hinterzimmers in »Willys Bar« öffnete. Im Rahmen stand der Eurasier. Seine tiefschwarzen Augen glitten nadelspitz über die versammelten Gangster. Sie blieben an einem Mann hängen, der im Hauptquartier des Bosses die Funktion eines Dieners versehen hatte.
»Conny!«
Der Mann schnellte hoch und ging auf den Eurasier zu.
»Du kannst anfangen. In einer halben Stunde erwarte ich deine Vollzugsmeldung.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drehte sich der Eurasier um und verschwand wieder hinter der Tür.
Der, den er mit Conny angesprochen hatte, wurde auf einmal sehr lebendig. Er warf seinerseits einen musternden Blick über die Anwesenden und sagte: »Es geht los, Jung;s. Jeder weiß, was er zu tun hat. Sollte jemand aus der Reihe tanzen, bin ich leider gezwungen, ihn sofort zu liquidieren. So lautet unsere Abmachung, und ihr wart damit einverstanden.«
Die Männer schwiegen verbissen. Auf ihren Gesichtern lag keine Begeisterung, eher Furcht. Aber keiner wagte, gegen Conny anzugehen.
Der Wirt hinter der Theke drehte sich um und wollte das Lokal verlassen.
»Hierbleiben, Willy«, befahl Conny.
»Das ist meine Kneipe«, brummte der Wirt böse. »Ich nehme von niemandem Befehle an. Auch nicht von deinem Boß!«
»Ist das dein letztes Wort?«
Man spürte förmlich, wie die Ganoven den Atem anhielten. Das war eine Machtprobe, und von ihrem Ausgang hing es ab, ob Conny den ihm aufgetragenen Job durchführen konnte oder nicht.
»Mein letztes«, sagte Willy fest.
Niemand sah die blitzschnelle Bewegung, als Conny den Arm hob. Nur Willy machte auf einmal ein sehr erstauntes Gesicht. Direkt über seiner Nasenwurzel erschien plötzlich ein kleines Loch, aus dem ein dünner Blutstrom zu
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