Jerry Cotton - 0556 - Das Revolver-Quintett
langsam durch den Türspalt. Er hatte überlegt, ob es vielleicht besser sei, auf allen vieren vorsichtig auf die Couch zuzukriechen, aber dann ließ er es doch. Auf Zehenspitzen tappte er Schritt für Schritt vorwärts. Zum Glück wandte ihm die Frau den Rücken zu. Durch das Gewicht ihres Oberkörpers war der äußere Zipfel des Kissens ein wenig emporgedrückt, so daß man jetzt den Griff und die Trommel des Revolvers sehen konnte.
George streckte die Hand aus. Vorsichtig legten sich seine kindlichen Finger um den Kolben der schweren Waffe. Er zog behutsam. Lautlos rutschte, der Revolver unter dem Kissen hervor. Als er nicht mehr von der Couch gestützt wurde, wäre er ihm beinahe aus der Hand gefallen. Himmel, das Ding war ja viel schwerer, als er gedacht hatte!
George trat den Rückzug an. Einmal stieß er, weil er halb rückwärts ging, um die Frau nicht aus den Augen zu lassen, mit der Seite gegen einen schweren runden Tisch. Da er sich sehr langsam bewegte, fiel der Stoß zum Glück nicht so heftig aus, daß man ihn hätte hören müssen. Trotzdem schlug ihm das Herz bis in den Hals hinauf, während er zwei Sekunden lang vor Schreck wie gelähmt auf die schlafende Frau starrte.
Es schien ihm ein unendlich langer Weg zu sein, bis er wieder im Eßzimmer angekommen war. Er schob sich zu seiner schlafenden Mutter und stieß sacht gegen ihren Oberarm. Sie murmelte etwas im Schlaf, rollte den Kopf von der rechten auf die linke Wange und wollte weiterschlafen. George stieß sie noch einmal an. Dabei flüsterte er dicht an ihrem Ohr: »Mammy, Mammy! Aufwachen! Wach doch auf, Mammy!« Ein dritter Stoß endlich hatte den gewünschten Erfolg. Mrs. Hiller lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. George legte den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und machte »Pssst!«
»Um Gottes willen, George…«
»Ruhe!« zischte der Junge wütend und so scharf, daß Mrs. Hiller erschrocken verstummte.
Sie sah, daß er nach nebenan lauschte. Wieder hörte er, wie sich die Frau drüben im Wohnzimmer umdrehte. Mit einer Handbewegung machte er seiner Mutter klar, daß ,sie nur nichts sagen sollte. Erst als er nach langem Warten sicher war, daß die Frau noch immer schlief, drehte er sein vor Aufregung gerötetes Gesicht wieder seiner Mutter zu und hob die rechte Hand, in der er den Revolver hielt.
»Ich habe ihr den Revolver unter dem Kopfkissen weggezogen!« sagte er mit einem triumphierenden Leuchten in seinen Augen. »Du mußt jetzt Mr. Cotton anrufen, damit er uns abholt und die Frau einsperren kann. Komm, Mammy! Ich passe mit dem Revolver auf, daß sie dir nichts tun kann, wenn du telefonierst!«
Mrs. Hiller stand vor Überraschung der Mund offen. Sie schüttelte sprachlos den Kopf.
»Nun komm schon!« drängte der flüsternde Junge ungeduldig. »Los, Mammy! Du brauchst doch nur Mr. Cotton anzurufen!«
Mrs. Hiller zögerte noch ein paar Sekunden, aber der Junge drängte sie fast vom Stuhl. Er ging vor ihr her, drehte sich um und legte wieder den Zeigefinger an die Lippen.
Das Telefon stand im Wohnzimmer auf einem Tischchen links in der Ecke. Der Junge gab ihr einen Wink, während er sich hinter den runden Tisch stellte, beide Hände darauflegte und den Kolben der Waffe auf die Tischplatte stützte.
Mrs. Hiller sah sich ängstlich um. Von den Männern war niemand zu sehen.
Vielleicht hatte ihr Junge recht. Mit der Frau allein konnte es nicht so gefährlich werden. Schon gar nicht, da sie den Revolver nicht mehr hatte. Mit vor Aufregung zitternden Händen griff Mrs. Hiller nach dem Hörer. Das Freiaeichen aus der Ortsleitung schien ihr so laut zu sein, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Rasch drückte sie die Hand über die Hörmuschel, während sie mit der anderen anfing zu wählen. Als sie schon die letzte Ziffer drehen wollte, fuhr die Frau auf der Couch plötzlich in die Höhe.
»Bleiben Sie ruhig sitzen!« rief die helle Stimme des Jungen. »Ich habe den Revolver, und ich schieße, wenn Sie meiner Mammy etwas tun wollen.«
Hastig riß Mrs. Hiller die letzte Ziffer auf der Wählerscheibe herum. Die Frau auf der Couch rieb sich die Augen. Sie starrte aus kleinen giftigen Augen auf den Jungen, der hinter dem Tisch stand und den schweren Revolver auf sie gerichtet hielt.
»Cotton«, sagte eine Stimme im Telefon.
»Oh, Gott sei Dank«, rief Mrs. Hiller. »Sie müssen uns helfen, Mr. Cotton. Bitte, kommen Sie schnell! Bitte, helfen Sie uns! Ich…«
»Wer ist da?« drang es aus dem Hörer. »Hallo! Warten Sie
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