Jerry Cotton - 0593 - Der Tote mit zwei Koepfen
sagst! Geh ein bißchen mehr nach links! Nein, in die andere Richtung! Noch ein Stück!«
»Morgen hältst du die Latte!« rief McWillock. »Und ich werde dich durch die Gegend scheuchen, daß du den Marathonlauf für einen Weitsprung hältst, verlaß dich drauf!«
Er nahm seine Latte und tat einen weiten Schritt von der Straße weg, die sie zu begradigen hatten. Plötzlich stutzte er. Eigentlich war es der Schwarm von Schmeißfliegen, der ihn aufmerksam machte. Er kam näher heran. In seinem Gesicht zuckte es.
Von unten rief Feldwater. McWillock hörte es anfangs gar nicht. Dann drehte er sich um und winkte Feldwater. Dabei war sein Gesicht wächsern gelb.
»Halte doch endlich die Latte!« rief Feldwater.
McWillock wollte etwas erwidern, brachte aber nur ein heiseres Krächzen aus der Kehle. Er winkte abermals. Kopfschüttelnd trabte Feldwater heran.
»Was hast du denn auf einmal? Mann, ist dir schlecht geworden? Du siehst ja ganz käsig aus! Ich…«
Feldwater brach ab. Nun hatte er es auch gesehen: Im Gras lag ein toter Mann…
***
Nancy Winters war am Ende ihrer Nervenkraft angekommen. Sie hockte neben dem schweren Eisenherd in der Küche und blickte starr vor sich hin.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Häuschen ihrer Eltern in Carsonville. Gut, sie waren streng. Ihre Ansichten schienen aus einem vergangenen Jahrhundert zu stammen. Aber hatte Nancy in diesem Häuschen nicht alle Geborgenheit dieser Erde gehabt! Sie ließ die heiße Stirn auf die angezogenen Knie sinken.
Timmy Crowley fiel ihr ein. Der fleißige, nüchterne Timmy.
In Nancys Augen sammelten sich Tränen. Sie hatte Timmy immer nur als einen großen Jungen angesehen. Noch längst kein Mann. Ein netter Spielgefährte, gewiß. Aber eben kein Mann.
Wenn er doch hier wäre! schoß es ihr durch den Kopf. Wenn Timmy hier wäre, ihm würde schon etwas' einfallen, wie wir davonkommen könnten. Meilenweit weg von dieser Bestie, die oben wieder auf dem Bett liegt und schnarcht…
Nancy würgte. Seit sie in dieses unglückselige Haus gekommen war, ließ der Ekel sie nicht mehr aus seinen würgenden Klauen. Im Kino sah das immer so schön gruselig aus: das arme gequälte Mädchen in den Händen eines brutalen Gangsters. Und irgendwie wußte man ja dabei immer, daß es das gar nicht wirklich gab, daß es nur Film war, gestellte Szenerie. Und auch wenn man in der Zeitung von derartigen Verbrechen las, konnte man es im Grunde gar nicht richtig verstehen.
Jetzt war alles anders. Sie hatte die furchtbarste Erfahrung machen müssen, die ein Mädchen machen kann. Nicht im Kino. Nicht aus einer Zeitung. Ihr schmerzender Körper hatte die ganze Brutalität einer menschlichen Bestie erfahren.
Wenn Timmy jetzt käme. Nancy fröstelte. Wie würde er sie anschauen, jetzt, mit dem veränderten Gesicht, mit den abgeschnittenen Haaren, gefesselt wie ein tollwütiger Hund mit einer klirrenden Kette?
Nancy fror noch in der warmen Mittagssonne. Ein kalter Ring hatte sich um ihre Brust gelegt und machte noch das Atmen zu einer Anstrengung. Ihr Blick verlor sich in eine unsagbare Ferne. Als sie schließlich aufstand, waren ihre Bewegungen von einer traumwandlerischen, unwirklichen Art. Leise, unendlich leise zog sie die verrostete Kette an ihrem Fuß hinter sich her.
Am linken Fenster hing eine verstaubte Schnur herab. Überreste von einem Vorhang, der aus dieser Hölle einmal eine anheimelnde Wohnung gemacht hatte. Jetzt hatte eine Spinne ihre Fäden von der grauen Schnur hinüber zu den Scherben gespannt, die vom Fensterglas übriggeblieben waren.
Nancy strich mit der Hand die Spinnweben ab. Sie sah hinaus in das wild wuchernde Gras hinter dem Haus. Sommerblumen blühten, und bunte Schmetterlinge gaukelten durch den Glast. Drüben im Wäldchen kreischte empört ein Eichelhäher. Vor dem Fenster summten Bienen. Nancy hörte es nicht. Mit kalten Fingern knüpfte sie die Schnur zu einer Schlinge zusammen und legte sie sich über den Kopf.
Herrgott, verzeih mir, dachte etwas in ihr. Verzeih mir. Aber ich kann nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus. Ich kann es nicht noch einmal ertragen, daß dieses Tier die Treppe herabkommt und seine gierigen Pranken nach mir ausstreckt. Und ich weiß doch keinen anderen Weg, wie ich hierwegkommen soll. Herrgott, verzeih mir…
Sie zog mit einem Ruck die Füße vom Boden.
Ein paar Sekunden verschwamm alles in rotem schmerzhaftem Nebel. Dann war da ein Poltern, Bewegung um sie, Wasser klatschte ihr ins Gesicht, und als sie
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