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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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können Nikaia von dort gerade noch sehen. Von Xerigordon aus beherrschen wir das Land.«
    Die Reiter preschten voraus, das Fußvolk hastete hinterher. Xerigordon besaß dicke Steinmauern und Aufbauten aus altersschwarzen Balken, an einigen Stellen sogar mit Stein gedeckt. Als die Bewacher der Festung die riesige Menschenmenge sahen, verließen sie ihre Posten und flüchteten. Binnen einer Stunde war Xerigordon erobert; es half den Anstrengungen der Belagerer, dass am Fuß des Hügels, in einem kleinen Nebental, eine reichlich sprudelnde Quelle entsprang und die Seldschuken unterhalb der Festungsmauern einen Brunnen gegraben hatten.
    Noch während die Kreuzfahrer die Festung in Besitz nahmen, merkten sie, dass die altersschwachen Gebäude bis an die Decken angefüllt waren mit Vorräten und Verpflegung jeder Art, aber dass es innerhalb der Mauern selbst keinen Brunnen gab. Augenblicklich fingen sie an, am Brunnen und der Quelle die Ziegenbälge und alle anderen Behältnisse, in denen man Wasser aufbewahren konnte, zu füllen und in die Festung zu schleppen.
    »Wir sollten uns mit den Vorräten beladen«, schlug Rainalds Begleiter vor. »Mit dem Wichtigsten, das wir tragen können. Und gleich morgen früh zurück nach Civetot.«
    Der Ritter blinzelte in die Sonne, die inmitten farbiger Wolken, die zu kochen schienen, sich über dem Askanischen See senkte.
    »Nichts da!«, sagte er. »Wir haben ohne Kampf große Beute gemacht. Wir genießen, was wir haben - hier, auf dem Hügel!«
    »Du gibst die Befehle«, sagte der andere und zuckte mit den Schultern. »Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«
    Ein Teil des Pilgerheeres war noch immer damit beschäftigt, sich mit Wasser zu versorgen. Die Pferde soffen sich an der Quelle die Bäuche voll, die Männer schleppten Ziegenbälge und Krüge.
    Als es dunkelte und die ersten Lichter die Umrisse der Mauern und Gebäude in vage Helligkeit tauchten, erreichten die geflüchteten Wachen die Stadt. Nun würde es den Seldschuken klar sein, wenn sie es ohnehin nicht schon wussten, wie viele Köpfe der Feind vor ihren Toren zählte.
    Rainald, dem die Bedeutung eines Grenzkastells nicht fremd war, ließ die Tore schließen und stellte in Erwartung eines Angriffs überall bewaffnete Wachen auf.
    Über dem Meer im Westen erhellten Blitze die Nacht, gefolgt von grollendem Donner.
 
    Nur für Augenblicke tauchte die Scheibe des wachsenden Mondes zwischen den jagenden Wolken auf. Das Gewitter hatte die Felsenburg erreicht, und um die zitternden Mauerreste und Säulen kreischte der Wind. Er hatte draußen auf dem Marmarameer zwei Fischerboote gepackt, sie durch Wellen, Gischt und weiße Kronen aus prasselndem Schaum gejagt und sie auf der Fahrt quer durch die Bucht beinahe kentern lassen; die letzte Brandungswelle warf sie nebeneinander auf den Strand und schob sie mit knarrenden Masten hoch hinauf. Durch den Regen rannten die Fischer heran, und einer schrie: »Wir haben euer Feuer gesehen! Sonst wären wir verloren gewesen.«
    »Dann setzt euch ans Feuer und trocknet euch.« Faroard zuckte zusammen, als ein Blitz in ihrer Nähe einschlug. »Wird eine wilde, nasse Nacht!«
    Der Rappe war am anderen Ende des nassgeregneten Raums unter einem löchrigen Dach angebunden und riss jedes Mal, wenn das unirdische Licht eines Blitzes aufflackerte, grell wiehernd den Kopf in die Höhe. Rutgar lehnte an der Mauer, hielt die Augen geschlossen und versuchte, seiner Furcht Herr zu werden. In seinem Herzen rangen Vorstellungen, Prophezeiungen und wüste Bilder des qualvollen Unterganges miteinander. Was unterschied ein Gewitter über Drakon von einem gleich grausigen Ereignis in Les-Baux? Die nächsten Donnerschläge ließen die Erde und die Burg erzittern; Chersala klammerte sich an Rutgar, und die Männer verbargen die Köpfe in den Armen.
    »Die Welt geht unter«, sagte jemand mit heiserer Stimme in die nachfolgende Stille hinein. Regentropfen verzischten im Feuer. »Am Himmel kämpfen fremde Heere gegeneinander.«
    Blitz folgte auf Blitz, die gewaltigen Donnerschläge lösten einander ab und ließen Splitter zwischen den Quadern herausfallen. Die Männer vermochten nur in den wenigen Pausen des Lärmens miteinander zu reden. In der Zeit zwischen dem Entstehen der schwarzen Riesenwolke und dem Ausbruch des Gewitters hatten sich am Himmel bestürzende, gewaltige Vorgänge abgespielt. Die Bilder, die Rutgar sah, schienen nur ihm zu gelten, verwirrten ihn, drangen bis in die Tiefe seiner Seele:

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