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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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redeten, zwei Krüge hellroten Weins.
    In einer Kammer, deren Außenwand weggebrochen war, fanden Rutgar und Chersala nächtlichen Unterschlupf. Sie sahen die Sterne des Nordens und später, als sie sich leidenschaftlich paarten, den Mond und den Glanz seines Lichts auf den Wellen, die leise ans Ufer plätscherten und die schaukelnden Boote gegen die Quader und Holzpflöcke des Stegs poltern ließ.
    Die Nacht blieb ruhig. Die Stille schien zu beweisen, dass die Küste menschenleer war. Rutgar lag nicht lange mit offenen Augen da; die Müdigkeit war zu groß, und so kam er nicht dazu, über die dräuenden Bilder am Gewitterhimmel und seine Furcht nachzudenken. In der Stunde zwischen dem Erlöschen der Sterne und dem ersten Grau im Osten legte Rutgar die goldene Kette, die er dem gefallenen Türken abgenommen hatte, um Chersalas Hals; sie schlief fest und spürte nicht, wie er das Lederbändchen in ihrem Nacken verknotete.
 
    Kurz nach Sonnenaufgang standen Rutgar und die Fischer bis zu den Hüften im Wasser, hoben einen Fisch nach dem anderen aus dem Boot und schlitzten die schuppigen Leiber von den Kiemen bis zum Schwanz auf. Über dem Gedärm, das ins Meer gespült wurde, und den Fischköpfen, die von der Strömung durch die Bucht gezogen wurden, flatterten kreischend die Möwen. Rutgar tauchte den Dolch ins Wasser, warf zwei schlenkernde Fischhälften in den Weidenkorb und rief: »Fahrt ihr schon heute wieder hinaus? Oder tragt ihr den Fisch nach Drakon?«
    Einer der beiden Fischer, Simeon mit Namen, hob den tropfenden Korb auf seine Schulter. »Wir fischen. In ein paar Tagen holen sie ihren Fisch selber.«
    Kaum ein Fisch des gestrigen Fanges war kleiner als eine Elle. Aus dem Dach von Faroards Hütte quoll dichter Rauch. Die Möwen versuchten, Fischadler und kreisende Falken zu vertreiben; zwei Dutzend der aufdringlichen Vögel schwammen zwischen dem blutigen Abfall. In einer Öffnung des halb zerfallenen Turms, an der höchsten Stelle der Burg, hielt Chersala Ausschau. Unter dem Horizont glitten zwei Frachtschiffe auf die Anlegestelle von Civetot zu. Jeder Seemann wusste, wo das Lager der Pilger war, aber jenseits von Helenopolis waren die Palisaden nicht mehr zu erkennen. Nahe am Ufer war das Meer noch sommerlich warm. Rutgar traf eine Möwe mit einem Fischkopf, den er mit aller Kraft geschleudert hatte, und langte nach dem nächsten Fisch, der ihm zweimal durch die Hände glitschte und ins Boot zurückfiel, auf dessen Holz ein schleimiger Überzug stank.
    »Wisst ihr, wann der Herbstmond zu Ende geht?«, fragte er in einer Arbeitspause.
    Andreas, der andere der beiden Fischer, meinte: »In drei Tagen fängt der Weinmond an. Dann gibt's überall in unseren Dörfern schöne Mostfeste.«
    Rutgar nickte und glaubte, abermals ein Zeichen zu erkennen: Ihm und Chersala blieben nur noch wenige Nächte bis zum Abschied. So war es abgemacht. Aber wenn er auf Kukupetros und das Heer von Papst Urban wartete, gab es wohl keinen Abschied, denn er war in Drakon gut aufgehoben. Dachte er an Civetot, die Plünderer vor Nikaia und die Armee des Sultans, bildete sich in seinem Magen ein Stein, größer als eine Faust. Sein Blick glitt zu den Möwen und der breiten Bahn des Geschlinges der Fischschwänze und -köpfe im blutrot gefärbtem Wasser der Bucht.
    Simeon begann den größten Fisch abzuschuppen und mit Sorgfalt zu entgräten.
    »Den hier, den Vater aller Schwimmer, werden wir heute braten und mit gutem Öl, frischem Brot und feinen Oliven essen. Bist ein fleißiger Zerschneider von Fischen, Fremder.«
    Rutgar grinste schief und antwortete: »Ich bin zu fast allem gut zu gebrauchen.«

Kapitel XIV
 
A.D. 1096, 6. T AG IM W EINMOND (O KTOBER ),
S ONNENAUFGANG
I N X ERIGORDON
 
»Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt.«
(Offb 11,7)
 
    Im Morgengrauen weckten Jean-Rutgar gellende Pfiffe und das Wiehern eines Pferdes. Er packte das Schwert und rannte barfuß zu der Stelle der Turmruine, von der aus zwei Pfade zu überwachen waren. Auf dem östlichen Weg näherte sich ein Reiter auf einem Rappen mit einem zweiten, gesattelten und schwer bepackten Pferd. Einige Atemzüge später erkannte Rutgar Berenger, der eines der früher erbeuteten Pferde, den Apfelschimmel, als Saumtier hinter sich herzog.
    Rutgar winkte und rief: »Hierher, Berenger! An den Mäuerchen entlang, bis zur zerbrochenen Säule!«
    »Bist du unter die Fischer gefallen, Ritterlein?«, gab Berenger laut zurück und hob den Arm.

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