Jerusalem
suchen und zu finden. Es brauchte Zeit.
Wie auch immer: Er hatte eine Grenze überschritten, war in gestrecktem Galopp über eine unsichtbare Linie geritten, die ihn bisher von den »christlichen Rittern« getrennt hatte. Aber warum suchten ihn jetzt Zweifel heim, anders als all die vielen anderen Sieger dieses langen, blutigen Tages?
Auf dem trockenen Boden lagen Stroh und Heu. Rutgar schöpfte lauwarmen Sud aus dem Kessel, breitete seine Decken und den erbeuteten Reitermantel aus und hockte sich auf den Boden. Der fremde Mantel aus seltsam leichtem Stoff verströmte keinen Geruch von Pferdeschweiß, sondern duftete nach unbekannten Kräutern oder balsamischen Spezereien. Rutgar trank, ohne etwas zu schmecken. Flüchtig dachte er an die kurzen Augenblicke, in denen er im Kampfgetümmel, unter Adhemars Männern, das Gesicht Thybolds zu erkennen geglaubt hatte. Morgen. Oder später; er würde nach ihm suchen.
Vom Mittelpunkt des Lagers erklangen an- und abschwellend die Gebete und Lieder eines Gottesdienstes. Noch ehe der Becher leer war, sank Rutgar zur Seite, und als er sich ausstreckte, schlief er schon.
Einige Tausend Pilger, Handwerker und Knechte brachten am späten Abend und noch während der Nacht eine gewisse Ordnung ins Lager. Mit der nächtlichen Kühle und dem bleichen Mond, der zwischen Wolken durch die Nacht zu taumeln schien, kamen Schlaf und Ruhe über die Pilger. Von den Hügeln wehte der Wind den Geruch sonnendurchglühter Wälder zu den Wasserstellen und vertrieb Gestank und Rauch der verlöschenden Feuer.
Der Sieg der Kreuzfahrer war groß, aber nicht endgültig. Bohemund von Tarents Bruder Guglielmo starb noch in dieser Nacht am Blutverlust der schweren Wunden. Die Beute war gewaltig; Gold, Silber, Ochsenherden, Reit- und Lastkamele, Schafe, Zelte, Pferde und Sättel und Waffen und Vorräte hatten die Seldschuken zurückgelassen. Die Ritter erfuhren von den Christen Dorylaions, dass die Stadt Ikonion, ungefähr vierundvierzig Tage entfernt im Südosten, von Kilidsch Arslan zur neuen Hauptstadt der Seldschuken auserwählt worden war.
Langsam sickerte die Nachricht durch, dass Bischof Adhemar eine Handvoll Einheimische und einige Kundschafter des Tatikios gewonnen hatte, die ihn zur rechten Zeit auf kaum bekannten Wegen in den Rücken des Sarazenenheeres geführt hatten. Im Rat der Fürsten, an dem General Tatikios teilnahm, war die Achtung vor dem Gegner ebenso gestiegen wie das Vertrauen in die eigene Kraft - der Sultan und seine Truppen waren ebenbürtige Gegner, die jeder christliche Fremde fürchten musste. Fast dreitausend getötete Sarazenen, fast viertausend Bewaffnete aus den drei Schlachthaufen und viele unbewaffnete Pilger lagen unter den schwarzen Erdhügeln. Aber die Anführer wussten, dass sie das Heer nicht lange rasten lassen durften - regnerischer Herbst und eisiger Winter würden mehr Männer umbringen als die Pfeile der Sarazenen.
Jean-Rutgar erwachte aus einem wüsten Traum, in dem er sich hundert Tage lang kämpfend, dürstend, hungernd und in tiefstem Elend durch die Landschaft des Weltuntergangs geschleppt und dem Verderben nackt und hilflos entkommen war. Aus verklebten Augen blickte er um sich: Im Halbdunkel des Zelts erkannte er neben sich Chersala und auf der anderen Seite Berenger und Radvan, den jungen Seilschläger.
Rutgar richtete sich auf, taumelte zur Leinwandklappe und schloss geblendet die Augen. In jedem Muskel, jedem Knochen nistete dumpfer Schmerz. Es war Mittag. Um ihn herum brandete der Lärm des Lagerlebens. Rutgar tappte zur Abtrittgrube und erleichterte sich, stöhnend vor Wohlbehagen. Dann stolperte er zum nächsten Trog, an dem sich einige Männer wuschen, und stellte sich neben sie. Sauberkeit war lebenswichtig; Schmutz in den Wunden machte sie schnell zu schwärenden Fisteln und Eiterblasen.
Das kalte Wasser machte Rutgar wach, er wagte einen langen Blick zum Himmel, über den große weiße Wolken trieben. Abermals drohte die Hitze eines langen Sommertages. Zwischen der Lagergasse und General Tatikios' Zelt hockten zwei Dutzend Männer auf zusammengesteckten Bänken und löffelten mit Brotfetzen fetten Brei aus ihren Holzschalen. Krüge, Becher und Salznäpfe standen auf den Platten, die noch vor einer Stunde als Seitenwände der Karren gedient hatten. Chersala, die inzwischen ebenfalls aus dem Zelt gekrochen war, winkte und deutete auf den Platz neben sich. Zwei Frauen aus der Pilgerschar schnitten Fleisch in Würfel und ließen sie
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