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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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darunter vier kräftige, edle Tiere, die Emire geritten haben mochten. Die erbeuteten Sättel stellten meisterliche Handwerkskunst dar; feinstes Leder und herrliche Verzierungen. Rutgar fühlte wühlenden Schmerz und Erschöpfung in allen Gliedern; noch immer zitterten seine Finger.
    »Wir haben wieder einmal überlebt«, sagte er leise und streifte das schweißnasse, schmutzige Hemd und die feuchten Stiefel ab. Die Schnitte der Pfeilspitzen brachen auf und begannen wieder zu bluten. »Es scheint, dass Rüstungen, Lanzen und Schwerter die besseren Waffen sind als die besten Pfeile.«
    Chersala wusch Rutgars Schultern und Oberarme und reinigte die Schnitte und blutunterlaufenen Schwellungen.
    Berenger indes schüttelte den Kopf und entgegnete: »Du solltest es gelernt haben, Ritterlein: Es sind nicht die Lanzen und Schwerter, sondern die heilige Gier, die entfesselte Wut und die Armut im Geiste. Die Franken sind Angreifer, keine Verteidiger; darin liegt ihre Stärke.« Auch er streifte sich mit steifen Bewegungen die Untertunika ab.
    »Sie kämpfen um jede Art von Beute«, warf Chersala ein und schlug die Hand vor den Mund, als sie Berengers Oberkörper sah. Die Pferde hörten zu saufen auf, ließen die Köpfe zu Boden sinken und fraßen am Futter; ein Zeichen, dass sich die Tiere wohlzufühlen begannen. »Und um freien Weg. Lass dir helfen, Berenger. Es muss furchtbar wehtun, alle diese Schnitte und Risse.«
    »Ich hab gewusst, dass du dich um uns kümmern wirst, Schönste«, sagte er laut, leerte den Wasserkübel über den Rücken seines Pferdes, bürstete das Tier halbwegs trocken und setzte sich auf einen Holzstoß. »Fang an, Knappe Cherso!«
    Ja, dachte Rutgar und strich vorsichtig dickes Öl, das nach Kräutern roch, über die unversehrten Stellen seiner Arme und Hände. Jetzt kommt die Müdigkeit über mich, und mit ihr kommen die Gedanken. Ich habe vieles gelernt in dieser kurzen Zeit. Vom Gestank aus den Mündern der Ritter, von ihren braunen Zähnen bis zu ihrem Glauben an Wunder und die Vergebung aller Sünden. Von ihrer jähen Grausamkeit, die aus herzlos leerer Gier nach Besitz, Beute und Herrschaft kam, bis zur Erbarmungslosigkeit der »Herolde Christi« gegenüber den »Ungläubigen«, den »Sarazenen«.
    Was hatte Gott bewogen, diese Ritter zu erschaffen? Hatte er weggesehen, war er unaufmerksam gewesen oder erschuf er sie am achten Tag im Zorn, um die Menschheit zu strafen? Es war müßig, danach zu fragen; aus den Wolken kam keine Antwort. In der Besinnungslosigkeit des Kampfes war er einer von denen, sagte er sich, und er war noch immer tief verwundert über sich selbst und den blutigen Rausch, in dem er gekämpft und getötet hatte.
    Während Berenger unter Chersalas behutsamen Fingern ächzte, betrachtete Rutgar die Beulen in seinem Helm. Nun wusste er, warum sein Schädel schmerzte. Er sammelte Kettenhemd und Waffen ein, hob nasse Tücher und seine Stiefel auf und humpelte zum Zelt. Es stank nach frischer Erde und faulenden Wurzeln, nach Wunden und Tod.
    Heute, wusste Rutgar, war ein entscheidender Tag in seinem Leben. Noch längst hatte er nicht alles verstanden, aber er fühlte, dass er eine Grenze erreicht hatte. Vielleicht war er sogar schwertschwingend über sie hinweggaloppiert. Er war einer von vielen Tausenden, die getötet hatten, um nicht selbst getötet zu werden. Er war seines Glaubens nicht sicher, aber er begann sich dafür zu hassen. Er hatte an nichts anderes gedacht als an das eigene Überleben, das davon abhing, wie viele andere Männer er tötete. Was hatte er getan? Gekämpft und getötet wie im Wahn, halb besinnungslos, vom Teufel tief in sich getrieben. Ebenso gedankenlos wie gnadenlos, ohne zu überlegen, hatte sein Schwert unter Menschen gewütet, die er nicht kannte, die ihm nichts getan hatten, die ihr Land ebenso verteidigten, wie er das seine gegen fremde Eroberer verteidigt hätte. Rechtfertigte die Befreiung von Christi Grab diese furchtbare Schlacht? Was tun? Buße und Reue? War die Erstürmung Jerusalems all die Angriffe wert, die Gräuel der Kämpfe, die unzähligen Verwundeten und die vielen Toten?
    Er wusste es nicht. Er war erschöpft und zitterte an allen Gliedern. Er hatte überlebt, er hatte aus der Beute Münzen, kostbare Steine und einige Dinge ausgewählt, die in Les-Baux ein Vermögen darstellten. Chersala und er waren unversehrt, von unbedeutenden Wunden abgesehen. Er schüttelte sich: Es war zu früh, zwischen all dem Wüten und Getöse Klarheit zu

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