Jessica
zurückgebliebenen Zwilling - wer auch immer es war - in dem vergeblichen Versuch, ihn zu beschwichtigen. »Was sollen wir machen?«
»Ich«, sagte Alma, »lege den Kindern frische Windeln an und gebe ihnen den Rest Milch. Du ziehst dich in der Zeit besser an und fragst die McCaffreys, ob sie dir einen Eimer Milch leihen können. Sie haben eine Kuh, weißt du, weil sie alle die Leute füttern müssen, die mit der Postkutsche durchreisen.«
Jessica legte das Kind aufs Bett - soweit sie beurteilen konnte, hatte noch keines richtig Luft geholt, seit sie zu schreien begonnen hatten — und zog sich rasch die Kleider vom Vortag an. Sie hatte noch Keine Gelegenheit gehabt, ihre Truhe auszupacken, geschweige denn, ihre Kleidung zu waschen. »Von den McCaffreys borgen? Ich meine, ich hätte einen Laden gesehen...«
Alma schniefte. »Das hast du, aber die Frau, die den Laden führt, taugt nichts - wenn du verstehst, was ich meine. Essie Farham sagt, dass diese Frau es auf ihren Ehemann abgesehen hatte.«
Jessica seufzte. Sie wollte sich li eber selbst ein Urteil über diese Frau bilden, zumal man sie selber dieser Dinge bezichtigt hatte, nachdem sie das Haus der Covingtons fluchtartig verlassen hatte - natürlich fälschlicherweise.
Aber im Moment war es einfacher, Alma zu gehorchen und die McCaffreys um Hilfe zu bitten. Michael hatte so oft gesagt, dass es kein freundlicheres Paar auf der Erde gebe als diese zwei.
Die Sache war außerdem viel zu dringlich, um sie durch Nachdenken zu verzögern. Hastig steckte Jessica sich die Haare hoch, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, bis es prickelte, zog ihren blauen Wollmantel an und ging hinaus, wo sie sich ihren Weg vorsichtig über die vereisten Stufen zum Bürgersteig suchte.
Es hatte aufgehört zu schneien, und die Sonne stand hell am Himmel, aber der Wind war schneidend kalt, und das Gehen fiel schwer, weil Jessica sich Schritt für Schritt durch die Schneehügel kämpfen musste, die die Straßen bedeckten.
Jessica blieb stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Wenn sie sich richtig erinnerte, war die Postkutschenstation hinter dem Brimstone-Saloon und der Praxis des Arztes, ganz weit draußen am Ende der Straße. Vorgestern war sie dort mit der Postkutsche eingetroffen - war das wirklich erst so kurz her? -, aber seitdem war so viel passiert. Jessica hatte erwartet, von Michael begrüßt zu werden, der gerade viel zu früh zum Witw er geworden war, aber stattdes sen war ihr ein Jacob McCaffrey entgegengetreten, der ihr ruhig erklärt hatte, dass i h r Bruder gestorben sei und man ihn vor einer Woche neben seiner jungen Frau begraben habe.
J essica nahm an, dass sie in einen Zustand des Schocks gefallen war, denn sie erinnerte sich nicht daran, dass man sie in die bescheidenen Räume über der Gazette geführt hatte, wo Alma ihr Bestes getan hatte, um die beiden verwaisten Babys zu versorgen, die irgendwie zu wissen schienen, dass sie allein auf der Welt waren.
Wie Michael und ich, dachte Jessica, als sie durch den Tiefschnee lief. Sie dachte nicht oft an ihre Kindheit zurück, aber hin und wieder - wenn ihre Gedanken ein wenig abdrifteten - fielen ihr bruchstückhafte Einzelheiten ein. An ihre Eltern hatte sie keine Erinnerung mehr, dafür war sie bei deren Tod zu j un g gewesen; aber an Regentagen, als sie beide noch al lein waren, hatte Michael ihr lange und umständliche Geschichten über sie erzählt. Schon damals hatte sie gewusst, dass er sie sich größtenteils ausgedacht hatte, aber sie waren dennoch ein großer Trost für sie gewesen.
Samuel Barnes, ihr Onkel und Vormund, hatte eine kleine Zeitung herausgegeben, und er hatte von Michael erwartet, dass er in seine Fußstapfen treten und das Geschäft einmal übernehmen würde. Stattdessen hatte Michael entschieden, nach Westen zu ziehen, und dadurch war es zum Bruch zwischen den beiden Männern gekommen, der nie wieder verheilte. Nur einen Monat nach Michaels Abreise war Onkel Samuel an Herzversagen gestorben.
Jessica blinzelte in den Schnee und beschloss, sich auf die Milch für die Zwillinge zu konzentrieren. Sie konnte die Station schon sehen, und trotz der hellen Sonne, die sie blendete, brannte in einigen Fenstern noch Licht.
Jessica vermied es, zum Friedhof und zu Michaels Grab hinüberzusehen. Im kalten, weißlichen licht dieses Januarmorgens kam ihr ihr Verlust noch größer vor als gestern an seinem Grab, und ihr Schmerz wurde noch stärker.
Jessica hob das Kinn und spürte, wie jeder
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