Jesus liebt mich
mich zu: «Mein Liebes, wenn du jemanden zum Reden brauchst …»
Jau, das fehlte mir noch: Psychotherapie bei Mama.
«Du kannst gerne mit mir nach Hamburg kommen», bot sie an, aber es war mehr eine Mischung aus Schuldbewusstsein und professionellem Therapeutenreflex als wahre Mutterliebe.
Papa trat zu uns und bot mir an: «Du kannst auch in deinem alten Zimmer schlafen.»
Egal, ob ich seine Swetlana beleidigt hatte, egal, ob er noch sauer war: Ich war seine Tochter, und er hatte immer einen Platz für mich in seinem Haus. Das war schön.
Auch Michi wollte mir helfen: «Du kannst auch bei mir übernachten. Ich habe schöne Horrorfilme zum Ablenken: ‹Saw›, ‹Saw 2›, ‹Die Braut, die sich nicht traut›.»
Ich musste trotz allem grinsen. Michi konnte mich immer besser zum Lachen bringen als Sven oder Marc. Blöd nur, dass meine Hormone nicht seine Vorliebe für Humor teilten.
«Penn bei Michi», raunte Kata mir zu, «und penn mit ihm.»
Ich konnte es nicht glauben, dass sie das jetzt vorschlug, und wurde rot, halb vor Wut, halb vor Scham.
«Das lenkt ab. Und er will dich seit Jahrhunderten», ergänzte sie.
«Erstens will er mich nicht seit Jahrhunderten», zischelte ich zurück. «Und zweitens, haben Michi und ich eine platonische Freundschaft.»
«Marie», antwortete Kata, «Plato war ein Vollidiot.»
Ich entschied mich gegen Horrorfilme bei Michi und Therapiestunden bei Mama, sagte dafür Papa zu. Kurz darauf betrat ich mein ehemaliges Kinderzimmer. Es sah immer noch so aus wie früher, also fürchterlich peinlich. An der Wand hingen Poster von Boybands, deren Mitglieder heute höchstwahrscheinlich Hartz IV bezogen. Ich schälte mich aus meinem Hochzeitskleid und ließ mich in Unterwäsche – andere Klamotten hatte ich ja nicht – auf mein altes, plüschiges Bett fallen. Tief deprimiert blickte ich an die Decke, wo man einen großen Wasserfleck sehen konnte – der Dachstuhl war kaputt. Papa wollte ihn demnächst reparieren lassen, waseine nette Idee war, sah es doch so aus, als würde ich den Rest meines Lebens in diesem Zimmer bleiben. Zumindest wollte ich nie wieder da raus, in die blöde Welt.
Kata setzte sich auf den Boden und lehnte sich ans Bett. Sie redete nicht, zeichnete stattdessen ganz ruhig an ihrem Comicstrip. Nach einer Weile betrachtete ich das Ergebnis.
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«Handelt dein Strip jetzt die ganze nächste Woche von meiner Desasterhochzeit?», fragte ich.
«Die nächsten zwei», grinste Kata.
«Und wie lange wirst du den überhaupt zeichnen?»
«Bis du erwachsen wirst», antwortete sie liebevoll.
«Ich bin erwachsen», protestierte ich schwach.
Kata blickte mich nur mitfühlend an: «Bist du nicht.»
«Sagte die Frau, die keine einzige Beziehung mehr eingehen will», erwiderte ich verletzt. Seitdem Lisa sie im Krankenhaus verlassen hatte, hatte Kata nur noch One-Night-Stands.
«Es ist eindeutig weiser, sein Herz nicht an Dinge oder Menschen zu binden und stattdessen den Augenblick zu genießen», erklärte Kata in einem nonchalanten Ton.
Es war ein Satz, der mir wieder mal zeigte, dass sie in der Tiefe ihres Herzens völlig desillusioniert war, wenn es um die Liebe ging. Und hoffnungslos. Doch ich war viel zu fertig, um sie darauf anzusprechen.
«Kannst du mich allein lassen?», bat ich sie nach kurzem Schweigen.
«Wenn man dich allein lassen kann?», fragte sie vorsichtig.
«Kann man», versicherte ich tapfer.
Meine Schwester gab mir einen Kuss auf die Stirn, schnappte sich ihren Block und ging raus. Ich nahm Papier und Stift aus meinem alten Schreibtisch und setzte mich auf das Bett, um eine «Positiv-Negativ»-Liste über mein Leben zu erstellen. Meine Therapeutin hatte mir das mal empfohlen, damit ich in Krisensituationen erkenne, dass mein Leben nicht so schlimm ist, wie ich denke.
Negativ in meinem Leben
Ich habe eine Hochzeit vergeigt, weil ich zu wenig Gefühle habe für den Mann, den ich heiraten wollte.
Und zu viele Gefühle für einen Mann, der mich mit einer Kleidergröße-3 4-Tussi betrogen hat.
Ich hatte das letzte Mal mit dreizehn Jahren Kleidergröße 34.
Ich habe einen Job, den ich mehr hasse als der durchschnittliche Palästinenser die Juden.
Ich habe aber auch keine Perspektive auf einen anderen Job.
Außerdem habe ich kaum Freunde.
Dafür hasst mich sicher halb Malente für das, was ich Sven angetan habe.
Ich übernachte wieder in meinem Kinderzimmer.
Im Alter von fünfunddreißig.
Ganz offensichtlich hat Kata
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