Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
Grundbesitz hatten. Demgemäß dürfen wir annehmen, dass Josef aus dem Hause David in Bethlehem über Grundbesitz verfügte, so dass er zur Steuererhebung dorthin gehen musste.
Über viele Einzelheiten wird man immer diskutieren können. Es bleibt schwierig, in den Alltag eines so weit von uns entfernten und so komplizierten Organismus wie den des Römischen Reiches hineinzuschauen. Aber die wesentlichen Inhalte der von Lukas berichteten Vorgänge bleiben trotz allem historisch glaubhaft: Lukas hat sich, wie er im Vorwort des Evangeliums sagt, entschlossen, „allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen“ (1,3). Das hat er offensichtlich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln getan. Er stand immerhin noch näher an den Quellen und an den Ereignissen, als wir es trotz aller historischen Gelehrsamkeit für uns beanspruchen können.
Kehren wir zurück zu dem großen Zusammenhang der historischen Stunde, in dem die Geburt Jesu stattgefunden hat. Lukas hat bewusst mit dem Hinweis auf Kaiser Augustus und auf „die ganze Ökumene“ einen zugleich historischen und theologischen Rahmen für die zu erzählenden Ereignisse hergestellt.
Jesus ist in einer genau zu bestimmenden Zeit geboren worden. Zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu bietetLukas noch einmal eine ausführliche und sorgsame Datierung dieser historischen Stunde: das 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; dazu werden der römische Statthalter jenes Jahres sowie die Tetrarchen von Galiläa, Ituräa und Trachonitis wie auch von Abilene und zudem die Hohenpriester genannt (vgl. Lk 3,1 f).
Jesus ist nicht im Irgendwann des Mythos geboren und aufgetreten. Er gehört einer genau datierbaren Zeit und einem genau bezeichneten geographischen Raum zu: Das Universale und das Konkrete berühren einander. In ihm ist der Logos, der schöpferische Sinn aller Dinge, in die Welt hereingetreten. Der ewige Logos ist Mensch geworden, und dazu gehört der Kontext von Ort und Zeit. An diese konkrete Realität ist der Glaube gebunden, auch wenn dann durch die Auferstehung der zeitliche und geographische Raum gesprengt wird und das Vorausgehen des Herrn nach Galiläa (vgl. Mt 28,7.16 ff) in die offene Weite der ganzen Menschheit hineinführt.
Noch ein weiteres Element ist wichtig. Der Befehl des Augustus zur steuerlichen Erfassung aller Bürger der Ökumene führt Josef zusammen mit seiner angetrauten Frau Maria nach Bethlehem, in die Stadt Davids, und dient so der Erfüllung der Verheißung des Propheten Micha, wonach der Hirt Israels in dieser Stadt geboren werde (5,1–3). Ohne es zu wissen, trägt der Kaiser zur Erfüllung der Verheißung bei: Die Geschichte des römischen Weltreiches und die Heilsgeschichte, die Gott mit Israel gestiftet hat, durchdringen einander. Die bislang auf Israel beschränkte Erwählungsgeschichte Gottes tritt ins Weite der Welt, der Weltgeschichte. Gott, der der Gott Israels und aller Völker ist, zeigt sich als der wahre Lenker aller Geschichte.
Bedeutende Vertreter der modernen Exegese sind der Meinung, die Nachricht der beiden Evangelisten Matthäus und Lukas, wonach Jesus in Bethlehem geboren wurde, sei eine theologische, nicht eine historische Aussage. In Wirklichkeit sei Jesus in Nazareth geboren worden. Mit den Erzählungen von der Geburt Jesu in Bethlehem habe man die Geschichte gemäß den Verheißungen theologisch umgeschrieben, um so vom Geburtsort her Jesus als den erwarteten Hirten Israels (vgl. Mi 5,1–3; Mt 2,6) kennzeichnen zu können.
Ich sehe nicht, wie man diese Theorie wirklich quellengemäß begründen könnte. Denn über die Geburt Jesu haben wir nun einmal keine anderen Quellen als die Kindheitsgeschichten von Matthäus und Lukas. Beide gehören offensichtlich ganz verschiedenen Überlieferungsträgern zu. Sie sind von unterschiedlichen theologischen Sichten geprägt, wie auch ihre historischen Nachrichten teilweise verschieden sind.
Matthäus war offenbar nicht bekannt, dass sowohl Josef wie Maria zunächst in Nazareth zu Hause waren. So will denn auch Josef bei der Heimkehr aus Ägypten zunächst nach Bethlehem gehen, und erst die Nachricht, dass ein Sohn des Herodes in Judäa regiere, veranlasst ihn, nach Galiläa auszuweichen. Für Lukas hingegen ist von vornherein klar, dass die heilige Familie nach den Geschehnissen der Geburt nach Nazareth zurückkehrte. Die beiden unterschiedlichen Überlieferungsstränge stimmen in der Nachricht überein, dass der Geburtsort Jesu Bethlehem war. Wenn wir uns an
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