JesusLuxus - Die Kunst wahrhaft verschwenderischen Lebens
unveränderbar. Ach, hätte ich mich doch damals anders entschieden! Aber es geht nicht. Eine Denkschleife, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.
Da ist es gut, von Rilke den anderen Blick auf die Vergangenheit zu lernen: Ihr tägliches Leben ist schon gelebt. Sie erkennen die Muster, die Wiederkehr des Erlebten, wie es übereinstimmt mit den Erfahrungen anderer, mit den alten Legenden und Märchen: »Wie Legende weit.« Aber nicht nur das. »Überwunden« ist ein herrlich befreiendes Wort. Was während der Dunkelstunden so unerträglich auf Ihnen lastet, Sie können es überwinden. Es ist vergangen, eingeordnet, aufgehoben, wie in alten Briefen. Sie sind frei. Frei für eine weitere Erfahrung, die nur in Dunkelstunden möglich ist:
A us ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Das ist der Sinn, warum in die menschliche Seele Depressionen eingebaut sind: Sie sind die Tür in eine andere Dimension, hinaus aus den ärmlichen Grenzen Ihrer Lebenszeit und Ihres Lebensraums. Dieses Erlebnis während der Dunkelstunden der Seele ist keine Idee, keine vage Ahnung, sondern: Wissen. »Wissen, dass ich Raum zu einem zweiten, zeitlos breiten Leben habe.« Ich kenne kaum eine schönere Formulierung für das, was Spiritualität ist. Den Raum, in dem der Glaube eigentlich zu Hause ist. Raum, der nicht räumlich ist. Zeit, die nicht mehr zeitlich ist. Die Dimension, in der Ihr menschliches Dasein verschmilzt mit dem Göttlichen. »Welten-Innenraum« nennt Rilke das in anderen Texten: Raum, aus dem neuer Sinn entspringt. Rilke wird von manchen als einer der großen Mystiker des letzten Jahrhunderts bezeichnet, besonders in seinem Spätwerk.
U nd manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
Die tiefe Wahrheit dieser Zeilen kann man wohl auch bei mehrmaligem Lesen nicht ergründen. Ich glaube, ich selbst werde ein Leben lang dafür brauchen. Aber ich ahne, dass ich tatsächlich nach meinem Tod wie ein Baum an meinem eigenen Grab weiterleben könnte, um in einer anderen Dimension meine unerfüllten und ungeträumten Träume zu erfüllen. Träume, die ich schon als Knabe hatte und dann wieder verloren habe, in den wunderbar schwermütigen Gesängen des Blues oder den großartig weiten Tönen von Claude Debussy.
Tod und Grab - nie kommt man dem Gegenteil des Lebens so nah wie in den dunklen Stunden der Seele. Und doch ist ausgerechnet hier, am entgegengesetzten Ende des Lebens, der Schlüssel zum Leben zu finden.
Die ultimative Dunkelstunde: Jesus am Kreuz
Unser christlicher Glaube ruht auf einer Dunkelstunde, die fast nicht zu überbieten ist. Keine Depression, keine Ahnung vom Tod, sondern der Tod selbst: Jesus, der einzige Sohn des Schöpfers, der Mensch gewordene Gott, stirbt.
Die Einzelheiten seines grausamen Foltertods sind detailliert überliefert. Die Todesart ist Kreuzigung, ein mutwillig in die Länge gestrecktes Sterben durch Erschöpfung und Ersticken, die damals wohl grausamste Art der Todesstrafe. Golgatha heißt der Hügel vor der Stadt Jerusalem, auf dem es geschieht. Pontius Pilatus heißt der Mann, der das Todesurteil unterzeichnet. Das Verbrechen steht auf einem Schild über dem Kopf des Hingerichteten: Weil er sich bezeichnet hat als König der Juden.
Für Jesus selbst, für seine Bewegung und sein gesamtes Lebenswerk ist das der Tiefpunkt. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Seine Freunde verlassen ihn, verstecken sich, stehen nicht zu ihm. In dieser furchtbaren Situation singt Jesus den 22. Psalm:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Ich schreie, aber meine Hilfe ist weit weg.
Ich rufe nach dir am Tag, aber du antwortest nicht.
Ich rufe zu dir in der Nacht, aber ich finde keine Ruhe.
Psalm 22,1-3
Jesus ist »hinabgestiegen in das Reich des Todes«, so sagen wir es im Glaubensbekenntnis. Ganz offensichtlich gehört auch dieser absolute Tiefpunkt zur Gesamtkonstruktion vom Menschsein. Jesus trägt die Gegenwart Gottes sogar in den Ort hinein, der dem Leben entgegengesetzt und von Gott verlassen ist. Aber jetzt darf man sagen: Der von Gott verlassen war . Es gibt keinen Ort mehr ohne Gott.
Der 22. Psalm, den Jesus am Kreuz zitiert, ist ein typischer Blues-Psalm Davids, mit den kreisenden Sätzen der Verzweiflung am Anfang, den Hilfeschreien mit Ausrufezeichen in der Mitte und
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