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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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mehr als ein dunkles Zittern in der Luft. Doch der Ton wurde schnell lauter, schwoll an, breitete sich aus,
verformte und verfärbte sich. Und jetzt waren es mehrere Töne, die gleichzeitig aus Irinas Mund kamen und sich wie ein Insektenschwarm überall im Raum ausbreiteten. Ein seltsames
Summen, ein schwebender Singsang, unterbrochen von dunkel gurrenden Kehllauten. Sie fing an, sich zu bewegen. Ein leichtes Wippen auf den Zehenspitzen. Eine wiegende Bewegung mit den Händen.
Ein Zucken der Schultern. Eine schnelle Drehung wie aus dem Nichts. Und noch eine. Und noch eine. Wie ein Kreisel begann Irina um die eigene Achse zu rotieren, immer schneller, immer wilder. Der
Rock hob sich in die Waagrechte wie eine bunte runde Scheibe. Darunter kamen kurze feste Beine zum Vorschein. Trippelnd. Hopsend. Stampfend. Die Arme kreisten wie Schwunghebel, immer noch waren die
Handflächen geöffnet. Der Kopf wurde in wilden Schleifen durch die Luft geschleudert und schien nur an ein paar losen Fäden am Rumpf zu hängen. Die Augen waren geschlossen, der
Mund weit geöffnet. Die Zunge glänzte rosig und Speicheltröpfchen zischten durchs Kerzenlicht. Immer schneller wurden die Drehungen. Gleichzeitig schwoll der Gesang an. Aber das war
jetzt kein Gesang mehr. Es war ein Summen, Murren, Zischen, Grölen. Und dazwischen immer wieder kurze, spitze Schreie, wie die Rufe eines Raubvogels. Dann ein Heulen, eine Art trillerndes
Wehklagen, begleitet von einem Stampfen, dass die Bretter nur so staubten, eine letzte, schnelle Drehung – und aus.
    Es war still im Raum. Alle standen mit offenen Mündern da und starrten auf die Bühne. Es war, als ob sich für die Leute für ein paar kurze Augenblicke eine Tür
geöffnet hätte, eine Pforte in ein fremdes Land. In eine Welt ohne Fraktionszwänge, Schinkenhäppchen und Bundfaltenhosen. Für ein paar kurze Augenblicke schienen die Leute
etwas kapiert zu haben. Etwas, das sie jetzt gerne behalten wollten, das ihnen jedoch schon wieder zu entgleiten begann. Und als schließlich gemeinsam mit den Mündern auch die Pforte
wieder zuklappte, war alles vorbei. Auf der Bühne stand Irina mit hängenden Armen und gesenktem Kopf und keuchte. Applaus brandete auf. Man nickte sich gegenseitig die Anerkennung
für diese seltsame Frau zu. Aber im Grunde genommen war man ganz froh, bei sich geblieben zu sein. Mit beiden Beinen im eigenen Land.
    Die Feier ging bald darauf zu Ende. Die Leute stiegen die Theatertreppen hoch, legten die schnapsschweren Köpfe in die Nacken, sahen im Hinterhofviereck über sich den Ausschnitt einer
sternenklaren Nacht und tröpfelten einzeln oder in kleinen Grüppchen auf die Straße hinaus.

GLOCKENLÄUTEN
    Fünfundzwanzig Jahre später hing das Schild immer noch über dem Eingang. Ausgeblichen und an den Rändern schon etwas zerschlissen, aber immer noch bunt und
leserlich. Es war heiß und stickig im Hof, auf einem Sims hoch über mir gurrten ein paar Tauben. Ich trat nahe an den kleinen Guckkasten neben dem Eingang heran und las das
Monatsprogramm. Gespielt wurde jeden Tag, außer Montag. Vormittags gab es Kindertheater. Im wöchentlichen Wechsel liefen die Stücke Roter Stiefel, Goldener Schuh sowie Frau Maus auf dem Weg zum Mond. Abends gab es Theater für Erwachsene. Diesen Monat lief Die Geschwüre des Sigmund Freud . Das klang nicht uninteressant.
    Im Glas des Guckkästchens konnte ich mein Spiegelbild sehen. Ich hatte mich in den alten schwarzen Anzug meines Vaters gezwängt, über die Jahre war der Stoff noch fadenscheiniger
geworden, noch etwas speckiger am Kragen und ausgefranster an den Säumen, zudem verbreitete er einen stechenden Geruch nach Mottenkugeln und war an Ärmeln und Hosenbeinen deutlich zu
kurz. Doch gerade deswegen schien mir dieser Anzug das dem heutigen Anlass genau angemessene Kleidungsstück zu sein. Er gab meinem Aussehen etwas Künstlerisches. Ich war ein Mann, der
sich nicht um Mode schert, der überhaupt auf Äußerlichkeiten keinen Wert legt, sondern der sich einzig und alleine für die Strebungen der Seele interessiert. Um in dieser Sache
einen weiteren Akzent zu setzen, war ich zuvor heimlich in den Salon geschlichen und hatte mehrmals tief in die große Brillantinedose gegriffen. Jetzt glänzte mein Kopf wie eine
Weihnachtskugel, aber ich fühlte mich gut.
    Über ein paar steile Treppen gelangte ich hinunter ins Foyer. Vier Tischchen mit Stühlen, eine winzige Theke, dahinter ein hoher Spiegel, an dessen Rändern

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