Jetzt wirds ernst
gichtig? Seine Füße erfroren? Hinkt er? Schielt er? Oder ist er einfach nur
wunderschön? Gut gebaut und kerngesund?«
»Ich glaube, er hinkt ein wenig …«, sagte ich schüchtern.
»Gut. Aber wieso kann er sich keinen Arzt leisten? Keine Medikamente? Keinen russischen Schamanen, der ihm die Knochen wieder einrenkt und die Furunkel aus dem Hintern kratzt?«
»Weil er kein Geld hat?«
»Nein!«, schrie Janos. »Weil er nicht genug Geld zu haben glaubt! Selbstverständlich könnte sich der Kerl einen Arzt leisten, immerhin ist er in diesem gefrorenen
Sumpf einer der wenigen mit Festanstellung und Rentenabsicherung! Aber er will nicht! Er sitzt auf seinen paar Rubeln wie die Henne auf ihren Eiern! Und warum?«
»Um irgendwann heiraten zu können?«
»Richtig!«, brüllte Janos und sprang erregt auf. »Er will heiraten! Und zwar wen?«
»Mascha?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Bravo! Unsere kleine Mascha! Aber warum ausgerechnet die? Warum ausgerechnet eine Dienstmagd, die den ganzen Tag den Stallmist umschichtet und in der dreckigen Wäsche ihrer
Herrschaft herumwühlt? Was will er ausgerechnet von ihr? Will er mit ihr interessante Gespräche über die jüngsten Erlässe des russisch-orthodoxen Klerus führen? Will
er mit ihr zeichnen und malen? Schlittenfahren? Oder will er einfach nur vögeln?«
»Wahrscheinlich von allem ein bisschen«, meinte ich.
»Er will vögeln!«, schrie Janos. »Bumsen! Nageln! Ficken! Alles andere ist Draufgabe oder Mittel zum Zweck! Aber die Frage ist: Hat er schon einmal gevögelt? Hat ihn
schon einmal ein Mädchen rangelassen?«
Er sah mich erwartungsvoll an. Ich zuckte mutlos mit den Schultern.
»Wir wissen es nicht«, sagte Janos und ließ sich wieder auf seinen Stuhl zurückplumpsen. »Aber wir können es uns denken. Das hier ist Theater. Was wir uns
denken, wird zur Wahrheit. Und wir denken uns natürlich: Dieser arme, kleine, furunkelgeplagte Zeichenlehrer hat noch nie gevögelt! Kein einziges Mal. Nicht einmal andeutungsweise. Wen
auch? In der russischen Steppe gibt es kaum Menschen, also auch kaum Frauen. Die wenigen, die es doch gibt, sind vergeben, zu jung, zu alt, inzestgeschädigt oder für die
Großgrundbesitzer reserviert. Wir denken uns also: Diese Mascha ist für Medwedenko weit und breit die einzige Möglichkeit, die einzige und vielleicht letzte Chance auf einen
ordentlichen Fick mit eventuell anschließender Familienbildung, richtig?«
»Richtig!«, bestätigte ich mit einem heftigen Nicken.
»Die Not ist groß! Er muss sie überzeugen. Er muss sie für sich gewinnen. Mit allem was er hat. Das ist allerdings nicht viel, oder?«
»Dreiundzwanzig Rubel im Monat plus Altersversorgung.«
»Und einen Haufen Furunkel im Arsch«, ergänzte Janos. »Das ist alles.«
Allmählich begriff ich, worauf er hinauswollte. Der Lehrer nahm vor meinem inneren Auge Gestalt an, ich begann ihn zu verstehen, konnte ihm nachfühlen. Und ich glaubte schon, ein
leichtes Brennen im Hintern zu spüren.
»Jetzt zu Mascha!«, befahl Janos. »Wie sieht sie aus?«
Sofort tauchte Tinka vor mir auf.
»Klein, breit, Riesentitten!«
»Titten wie Einkaufstüten oder wie Kirchenglocken?«, wollte Janos wissen.
»Vielleicht eher wie Glocken?«
»Dann lass sie für uns läuten! Stell dir diese Glocken vor. Gib ihnen eine Form. Gib ihnen einen Charakter. Gib ihnen von mir aus Namen. Spiel den Lehrer, mit allem was er hat.
Spiel ihn mit allem was du hast. Sein Talent ist dein Talent. Seine Not ist deine Not. Seine Schmerzen sind deine Schmerzen. Seine Geilheit ist deine Geilheit. Wenn er vögeln will,
willst du es auch, verstanden?«
Ja, ich hatte verstanden.
»Gut, also jetzt alles noch mal von vorne. Du gehst in die Seitengasse, schließt die Augen und lässt dir Zeit. Es ist kalt. Tiefster russischer Winter. Du kommst von der Schule.
Sieben Kilometer durch knietiefen Schnee. Der gefrorene Rotz hängt dir aus der Nase. Schneeflocken bleiben an deinem Nacken hängen. Die Kälte rinnt an deinem Rückgrat hinunter.
Alles tut dir weh. Die Gelenke. Die Finger. Die Zehen. Vor allem der Arsch. Aber heute ist dein Tag. Heute willst du es wissen. Du willst die Glocken läuten hören. Für dich und immer
nur für dich. Und da ist sie: Mascha. Los jetzt!«
Ich ging zur Seite ab und verzog mich hinter eine der Sperrholzplatten. Die Dunkelheit tat mir gut. Ich schloss die Augen. Versuchte mir die Kälte vorzustellen. Den russischen Winter. Den
beißenden Wind. Den bleifarbenen
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