Jetzt wirds ernst
Himmel. Tinkas Bild drängte sich in den Vordergrund. Ich musste es mit Gewalt verscheuchen. Eine andere Mascha tauchte auf. Auch klein. Auch gut
bestückt. Aber mit einem Paar großer, glänzend grüner Augen, zwei Fleckchen Sommer in dieser ganzen weißen Kälte. Ich schüttelte mich, atmete tief durch und
trat auf.
Ich watete durch meterhohen Schnee. Gleichzeitig hinkte ich und kniff den schmerzenden Arsch zusammen. Dazu schlug ich im schnellen Rhythmus die Arme um den Oberkörper und klapperte laut
mit den Zähnen. Ich bibberte und zitterte. Ich ächzte und stöhnte. Ich tat mir so leid, dass mir fast die Tränen kamen. Doch da war sie: Mascha. Meine Frau. Mein Sommer. Mein
Leben. Sie trug schwarze Spitzen. Ich konnte es deutlich sehen. Eine schwarze Spitzenbluse, die die prallen Körperwölbungen umspannte und hie und da weiße Haut durchschimmern
ließ. Seltsamerweise schien sie nicht zu frieren. Sie stand einfach nur da und sah mich an. Streng. Unerbittlich. Grausam.
»Warum gehen sie eigentlich immer in Schwarz?«, fragte ich sie. Das war keine normale Frage. Es war der Ausdruck all meiner Verzweiflung, Sehnsucht und Liebe. Ich presste den Satz
aus meinem Herzen, Wort für Wort, Tropfen für Tropfen. Vielleicht klang das Ganze etwas gequetscht, vielleicht auch ein wenig irre, vielleicht war es gar nicht richtig verständlich.
Es war mir egal. Ich war Medwedenko der Lehrer, ich hatte vereiste Füße, aber Feuer im Herzen. Und im Hintern.
Ich ließ mich auf die Knie fallen. Warf mich auf den Bauch. Umfasste Maschas derbe Schuhe. Begann zu weinen. Zu schluchzen.
»Warum?!«, heulte ich. »Ich verstehe das nicht … Sie sind gesund, und ihr Vater ist zwar nicht reich, aber doch nicht unvermögend. Da habe ich es um einiges
schwerer als Sie …!«
Ich fing an mich zu ihren Füßen im Schnee hin und her zu wälzen. Dabei musste ich die Orientierung verloren haben. Ich stieß an etwas Hartes. Es knirschte laut. Etwas
über mir wankte bedrohlich. Begann zu kippen.
»Vorsicht!«, hörte ich Janos schreien. Zu spät. Der ersten Sperrholzplatte konnte ich knapp ausweichen. Die Zweite verdunkelte den Scheinwerferhimmel und begrub mich unter
sich. Die dritte, vierte und fünfte konnte ich nur noch hören. Krach! Rumms! Krach!
Danach war es still. Eine Weile lag ich in der Dunkelheit auf dem Rücken und traute mich nicht, mich zu rühren. Es roch intensiv nach Farbe und Holz. Angenehm eigentlich. Am liebsten
wäre ich einfach so liegen geblieben. Für immer. Seine letzten Worte waren Tschechows Worte. Sein Grab war das Theater.
Da hörte ich ein leises Räuspern aus dem Zuschauerraum und erinnerte mich, warum ich eigentlich hier war. Mit Händen und Knien stemmte ich mich gegen das Gewicht über mir und
krabbelte darunter hervor. Ich befand mich irgendwo ganz hinten, die umgekrachten Platten bedeckten die kleine Bühne fast zur Gänze. Eine schien in der Mitte durchgebrochen zu sein, von
einer anderen ragte ein sanft zitternder Leinwandfetzen ab.
Ich stand auf, klopfte mir ein bisschen Staub von der Hose, legte eine Hand über die Augen und sah in die erste Reihe hinunter. Janos saß bewegungslos da. Seine Füße hatte
er vom Bühnenrand genommen.
»Soll ich weitermachen?«, fragte ich zaghaft. Er kratzte sich am Kinn, ganz deutlich konnte ich das rhythmische Geräusch seiner Fingerkuppen auf den Bartstoppeln hören.
»Du kannst nicht gehen. Du kannst nicht stehen. Du kannst nicht sprechen. Und du hast unser Bühnenbild ruiniert«, sagte er und seufzte. Es war ein tiefer, schwerer Seufzer.
»Aber du bist lustig!«, fügte er hinzu. »Sehr lustig.«
Sah ich da ein Lächeln in seinem Gesicht? Oder war es nur der Schatten seiner Nase? Ich fühlte mich jedenfalls überhaupt nicht lustig. Ich fühlte mich schmutzig. Ruiniert. Am
Ende.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Janos. »Wir könnten hier ein bisschen Hilfe gebrauchen. Putzen, schrubben, schrauben, Karten abreißen, kaputte
Bühnenbilder reparieren und so weiter. Wenn du möchtest, kriegst du den Job. Die Bezahlung ist saumäßig, dafür bekommst du Unterricht. Schauspielunterricht. Du lernst das
Theater von der Pieke auf kennen. Was sagst du dazu?«
Erst sagte ich nichts, stand nur da und nickte stumm. Dann stammelte ich etwas Unverständliches. Dann nickte ich noch einmal. Dann kamen mir ein paar Tränen. Ich sah, wie eine mir
davon den Nasenrücken hinunterlief, kurz an der Nasenspitze hängen blieb, sich mit einem zarten
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