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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Zahnspangen, Brillen, Spielzeugautos, Gebisse und so weiter, sammelte
ich in einem zweiten, etwas kleineren Sack. Manchmal kam jemand, um sein Zeug abzuholen. Meistens nicht.
    Pünktlich um viertel vor elf öffnete ich die Tür. Im Hof lärmte fast immer schon das Publikum. Vorschulkinder in Begleitung der Kindergartentanten. Stadtrandkinder,
Arbeiterkinder, Arbeitslosenkinder, verrotzte Gesichter, wackelige Milchzähne, zu rosigen Klümpchen geballte Fäuste.
    Die Kinder wurden von den resoluten Tanten zusammengetrieben, polternd ging es die Treppe hinunter, ein Geschrei, ein Geheule, ein Gequietsche, darauf weiter in den Zuschauerraum, jeder sucht
sich einen Platz, nicht stoßen, nicht drängeln, nicht spucken, die Großen nach hinten, die Kleinen nach vorne, die ganz Kleinen ganz nach hinten zu den Tanten.
    Ich gab das erste Zeichen.
    Dazu musste man einen unauffälligen Knopf im Schaltkasten an der Seitengassenwand betätigen. Sofort ertönte überall im Theater ein ohrenbetäubendes Klingeln und das
helle Stimmengeschwirr im Publikum schwoll an. Schlagartig stieg die Aufregung. Janos und Irina erschienen auf der dunklen Bühne. Auf dem Spielplan stand das Stück Frau Maus auf dem
Weg zum Mond. Janos war Frau Maus, Irina der Mond.
    Dann das zweite Zeichen.
    Jetzt waren die Kinder kaum noch zu beruhigen. Hin und wieder erschien eine kleine, feuchte Hand unter dem Vorhang, manchmal auch ein glühendes Gesicht. Janos verscheuchte es mit einem
staubigen Aufstampfen.
    Das dritte Zeichen.
    Gleichzeitig dimmte ich das Licht im Zuschauerraum runter. Aufgeregtes Kichern. Ehrfürchtiges Zischeln. Hinter mir das Rascheln des Mäusefells und das Knirschen der riesigen
Mond-Styroporkugel. Janos nickte mir zu und ich zog den Vorhang auf. Für einen kurzen Augenblick blieb die Bühne dunkel. Schließlich machte ich die Musikanlage an und fuhr die
Scheinwerfer hoch. Frau Maus trat an die Rampe und legte los.
    Und spätestens jetzt geschah das Unglaubliche: Das Wunder funktionierte. Janos war keine Frau und schon gar keine Maus. Er war ein älterer Mann, der seinen Körper in einen
zerschlissenen Fellfetzen gezwängt hatte. Und natürlich war Irina kein Mond. An ihrem Kostüm blätterte die Farbe ab, außerdem rieselten bei jeder Bewegung ein paar
Styroporteilchen von der Mondoberfläche. Das Bühnenbild war ein Witz, ein paar schiefe Sperrholzplatten, wie von einem besoffenen Surrealisten mit groben Landschaftsfantasien bekleckert.
In der Musikanlage eierten die Bänder und die alten Boxen schienen von innen herauszustauben. Hin und wieder knallte ein Scheinwerfer durch, manchmal sogar mehrere. Schon im ersten Akt begann
die Schminke in den Gesichtern zu zerrinnen, spätestens nach einer halben Stunde glichen sie zerlaufenen Kinderaquarellen. Alles knarrte, knirschte und wackelte. Das Theater glich einem alten
Kahn, der notdürftig zusammengezimmert aus morschem Holz, brüchiger Leinwand und fadenscheinigem Stoff seinem sicheren Untergang entgegenschipperte. Aber er ging nicht unter. Niemals.
Jeden Tag pünktlich zu Vorstellungsbeginn wurde aufs Neue der Anker gelichtet, und es ging weiter auf schwankenden Planken über die raue See der Dramatik.
    Das Theater war ein einziger Beschiss. Eine Lüge. Aber die Leute wollten belogen werden. Sie zahlten sogar Eintritt dafür. Sie zahlten dafür, sich von ein paar kostümierten
Wahnsinnigen in einem ehemaligen Kartoffelkeller etwas vorgaukeln zu lassen.
    Und auch die Kinder spielten mit. Das Licht ging an, Janos betrat die Bühne und fing mit morgenrauer Stimme an, das Lied von der traurigen Maus zu singen. Und schon mit dem ersten
Ton war er verschwunden. Einfach weg. Es gab keinen Janos, hatte nie einen gegeben. Es gab keinen schlurfenden Schauspieler mit seltsamem Akzent, es gab keine blechern sirrenden Scheinwerfer, keine
eiernde Stereoanlage. Und das hier war kein Theater. Das hier war die blühende Heimatwiese einer traurigen Mäusefrau! Dass diese Maus sich irgendwann auf die Socken machte, um den Mond zu
besuchen, war geradezu eine Selbstverständlichkeit. Und dass ihr dieser Mond zufällig direkt vor die Füße plumpste und die beiden anschließend gemeinsam singend, tanzend
und verschiedene Abenteuer erlebend im Weltall herumschwirrten, war sowieso nur mehr die logische Fortsetzung der Handlung.
    Die Kinder glaubten alles. Mit glänzenden Augen starrten sie auf die Geschehnisse, die sich vor ihnen abspielten. Manchmal schrien sie vor Erregung, lachten,

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