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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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hatte einen Job, etwas Geld in der Tasche, einen Brillantinetopf im Schrank und Hunderte Bücher an den Wänden. Das einzige, was mir jetzt noch fehlte, war ein Mädchen.
    Ich dachte an Lotte. Die Mondsichel auf ihrem Knie. Die Ohrläppchen. Das Glänzen ihrer Schenkel. Ich wühlte in mir wie in einer Fotokiste nach alten Bildern, um vielleicht doch
noch einen Schmerz daraus hervorzukramen. Aber da war keiner mehr. Im Grunde genommen gönnte ich Lotte und Max die Zweisamkeit, die mir verwehrt geblieben war. Oder erspart. Es hätte
sowieso nicht gepasst. Meine Verliebtheit war ein Strohfeuer.
    In einem wohligen Anfall bäumte ich meinen Oberkörper auf und ließ ihn wieder zurück auf die Matratze plumpsen. Vor meinem Fenster landete eine Taube, trippelte ein bisschen
hin und her, gurrte, hob die Schwanzfedern, schiss einen weißen Strahl aufs Brett und flatterte wieder ab. Für einen Moment legte sich ein goldener Glanz auf die Regenrinne
gegenüber. Irgendwo hinter den Dächern verschwand langsam die Sonne.

DAS WUNDER FUNKTIONIERT
    Jeden Tag um zehn Uhr vormittags hatte ich im Theater zu erscheinen. Auf keinen Fall vorher. Meistens saßen Janos und Irina schon an einem der Tischchen im Foyer und
starrten schweigend in ihre Kaffeetassen. Tiefe Falten, schwere Glieder, runde Rücken, Augenringe, so breit und schwarz wie Autoreifen. Niemals, auf keinen Fall, unter keinen Umständen
durfte man die beiden jetzt ansprechen. Das tat ich auch nicht. Stattdessen nutzte ich diese morgendliche Übergangszeit zwischen Tod und Leben, um das Theater zu erkunden. Den kleinen Gang
hinter der Garderobennische hatte ich ja schon kennengelernt. Er führte direkt zu einer der beiden Seitengassen neben der Bühne. Alles war schwarz: die grob verputzten Ziegelwände,
die schrägen Seitenvorhänge, die Haken und Verstrebungen an der Decke, der weich gummierte Läufer am Boden, der jedes Schrittgeräusch schluckte. An den hinteren Enden der Gassen
gelangte man über schwere Metalltüren in die Garderobenräume. Frauen und Männer getrennt, jeweils drei Stühle vor hohen, mit kleinen Glühbirnen umrahmten
Schminkspiegeln. Überall lagen und standen Pinselchen, Bürstchen, Tiegelchen, Tuben, Dosen und Töpfe. In einer Ecke lagen ein paar geköpfte Champagnerflaschen, daneben ein
Haufen Dreckwäsche. Von einem hohen Wandregal starrten etwa zwei Dutzend perückenbestückter Holzköpfe in den Raum. Drei weitere Türen führten zur Bühnenwerkstatt,
zur Schneiderei und zu einer Art Aufenthaltsraum, einem winzigen Zimmerchen, dessen einziger Einrichtungsgegenstand ein knarrendes Sofa mit zerschlissener Wolldecke war. Fast im ganzen Theater
herrschte ein unfassbares Durcheinander, und über allem lag dieser spezielle Geruch, ein Gemisch aus Holz, Farbe, Kleister, Stoff, Schweiß, Puder, Schminke, Geilheit und Angst.
    Ungefähr um halb elf begannen Janos und Irina draußen im Foyer aus ihrer morgendlichen Halberstarrung zu erwachen. Die Augenringe lösten sich auf, die Gesichter bekamen Farbe,
die Blicke lösten sich von den Kaffeetassen, die Köpfe hoben sich schwerfällig. Es war, als ob das Leben jeden Morgen aufs Neue in die beiden Körper zurückkehren
müsste. Ein mühsamer und schmerzhafter Prozess.
    Gearbeitet wurde tagtäglich außer sonntags. Nachmittags wurde geprobt, abends und vormittags wurde gespielt. Die Kindervorstellungen begannen um elf Uhr, Einlass war viertel vor. Wir
hatten also eine Viertelstunde, um alles vorzubereiten. Janos kümmerte sich um die Technik. Das heißt, er wanderte mit einer Leiter auf und ab und kontrollierte die Scheinwerfer unter
der Decke. Danach verschwand er in den Seitengassen, um probeweise die Musikanlage und den Seilzug für den Vorhang zu betätigen. Er kroch in der Bühnendekoration herum, zog hie und
da eine Schraube nach oder klopfte eine verrutschte Sperrholzplatte gerade. Zum Schluss legte er auf einem Tischchen sorgfältig die Requisiten zurecht. Währenddessen kümmerte sich
Irina um Kostüme, Perücken und Masken. Leise summend saß sie in der Schneiderei, stopfte Löcher, bürstete Felle, färbte Strähnen oder kratzte die Dreckkrusten
von den Schminkdosenrändern.
    Meine Aufgabe bestand darin, die beiden Kaffeetassen zu waschen und anschließend in einem Schränkchen in der Garderobennische zu verstauen. Danach ging ich gebückt zwischen den
Stuhlreihen im Zuschauerraum hin und her und stopfte den Mist des Vortages in einen Müllsack. Die Wertgegenstände,

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