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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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eine Rede und heul nicht theatralisch in der Gegend herum!«
    Ich fühlte mich ungerecht behandelt.
    »Aber wir sind doch im Theater!«, versuchte ich schüchtern einzuwenden.
    »Theater heißt nicht theatralisch!«, brüllte Janos. »Das Theater ist dazu da, Märchen zu erzählen und dabei Wahrheiten zu übermitteln,
verstehst du? Wahrheiten! Aber du machst den Mund auf und lügst! Jedes Wort ist gelogen! Jeder Ton ist falsch! Hätte dieser Marc Anton so wie du herumgeeiert, hätten ihn die
Leute kräftig in den Arsch getreten! Los jetzt, noch einmal von vorne!«
    Ich schloss die Augen. Kurz sah ich mich selber von der Bühne springen, über die Treppen hoch und auf den Hof hinausstürmen. Ich sah mich durch die Straßen rennen, hinaus
aus der Stadt und weiter über den Acker, bis ich mich irgendwann auflöste im hellen Flimmern des Horizonts.
    Ich machte die Augen wieder auf und fing von vorne an.
    »Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an …«
    Ich sah das Buch zu spät. Es war eine Art Regie- und Alltagsbuch, das Janos oft bei sich trug, um sich Notizen zu seinen Inszenierungen oder zu seinen Einkäufen zu machen. Wie ein
aufgeregtes Huhn kam es direkt auf mich zugeflattert. Ich konnte nicht mehr ausweichen, die Deckelkante traf mich frontal an der Stirn, das Buch klatschte zu Boden, ein paar Seiten schwebten wie
ausgerupfte Federn durch die Luft.
    »Aufhören!«, brüllte Janos.
    Er war aufgesprungen, sein Kopf war hochrot, sein Wurfarm ragte immer noch direkt auf mich gerichtet in die Luft.
    »Sofort aufhören!«
    Ich rieb mir die schmerzende Stirn. In meinem Bauch gurgelte es jetzt wieder. Etwas Breiiges, Heißes stieg in mir hoch und pfropfte sich im Kehlkopfbereich fest. Janos setzte sich wieder.
Legte die Beine hoch. Wippte mit den Füßen.
    »Ich … wollte …«, sagte ich leise. Weiter kam ich nicht. Der Pfropfen löste sich, und ich fing an zu schluchzen.
    »Gut so«, sagte Janos. »Man kann nie genug heulen auf dem Weg zur Wahrheit!«
    Ich schniefte und spürte, wie mir die heißen Tränen in den Hemdkragen liefen.
    »Machen wir weiter?«, fragte er nach einer Weile.
    »Klar machen wir weiter!«, sagte ich trotzig und wischte mir mit dem Ärmel den Rotz aus dem Gesicht. Dann holte ich tief Luft und legte wieder los:
    »Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an …«
    Der Kugelschreiber kam wie eine kleine Rakete auf mich zugeflogen. Doch diesmal sah ich es rechtzeitig kommen. Ein einfacher Seitenschritt genügte und das Ding zischte knapp an mir vorbei.
Ich hörte, wie es hinter mir mit einem satten Geräusch in der Bühnenbildleinwand stecken blieb. In der ersten Reihe leuchtete Janos’ Gesicht wie eine Laterne.
    Und ich begann von vorne.
    Abends gab es die Vorstellungen für Erwachsene. Fast jeden Monat kam ein neues Stück auf den Spielplan, allesamt seltsame Gebilde ohne klar erkennbare Struktur und
Geschichte. Außer den chaotischen Aufzeichnungen in Janos’ Regiebuch gab es keine Textvorlagen, vieles war improvisiert, und manches wurde überhaupt erst während der
Aufführung erfunden. Es gab lose Vereinbarungen, ein paar wenige gemeinsame Haltepunkte, der Rest war aus dem Augenblick herausgestampft.
    Meistens kamen Janos und Irina auf die Bühne und fingen an, sich Dialogfetzen um die Ohren zu schmeißen. Ein atemloser Schlagabtausch mit Worten und Sätzen, die sich aber schon
nach kurzer Zeit verselbständigten und ihren eigentlichen Sinn wie einen zu eng gewordenen Mantel abschüttelten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann auch der Akzent der beiden
durchzubrechen, erst als kaum heraushörbare Lautfärbung, bald als seltsam eiernde Sprachmelodie und schließlich in Form immer härterer Artikulationseinbrüche. Schon etwa
zehn Minuten nach Vorstellungsbeginn waren die beiden eigentlich nur mehr in Ansätzen zu verstehen.
    Doch merkwürdigerweise verstand man trotzdem alles. Irgendwie schafften sie es immer wieder, eine Geschichte zu vermitteln. Dabei hoben die Geschehnisse regelmäßig ab, und die
eben noch belanglos dahinplätschernde Handlung begann zu kippen. Ins Lächerliche. Ins Absurde. Ins Komische. Ins Tragische. Die Figuren wandelten sich innerhalb eines vernuschelten
Halbsatzes, die Schauplätze wechselten mit einem kleinen Schritt, die Stimmung schlug mit einer einzigen Geste in ihr genaues Gegenteil um. Aus Banalitäten wurde Existenzielles.
Plötzlich ging es um etwas: Liebe, Sex, Krankheit, Tod und so weiter. Die wenigen Zuschauer (es waren selten mehr

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