Jetzt wirds ernst
heulten, feuerten die Maus an
oder beschimpften den Mond. Leuchtende Gesichter. Offene Münder. Geballte Fäuste. Das Wunder war ein Beschiss. Aber es funktionierte.
LIEBE. SEX. KRANKHEIT. TOD.
Der Unterricht fand viermal die Woche am frühen Nachmittag statt. Am Anfang stand Körperarbeit mit Irina. Sie saß im Schneidersitz an der Rampe, während
ich in der Bühnenmitte stand. Ich trug meinen alten, hellblauen Trainingsanzug aus der Schule und kam mir seltsam vor.
»Geh hin und her!«, befahl Irina.
»Einfach so?«
»Einfach so!«
Ich begann auf der Bühne auf und ab zu gehen.
»Was fällt dir auf?«, fragte Irina nach einer Weile.
»Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Du gehst wie Brett!« Manchmal kam es vor, dass sie ein Wort wegließ, verschluckte oder einfach vergaß. Eine Schlampigkeit vielleicht oder ein Relikt ihrer Herkunft.
Anfangs fand ich das lustig. Später nicht mehr.
»Wie sehr, sehr steifes Brett!«
Ich bemühte mich elastischer zu gehen, bog das Kreuz durch, schwang die Arme, machte die Hüfte und die Knie weich, schlenkerte mit den Beinen.
»Hör auf damit!«, sagte Irina erschrocken. »Geh einfach normal weiter. Geh weiter, aber horch in dich hinein. Was sagt Körper?«
Ich ging weiter und versuchte, in mich hineinzuhorchen. Ich glaubte, ein leises Glucksen in der Magengegend zu hören. Vielleicht noch ein Knirschen im Beckenbereich. Ansonsten:
Funkstille.
»Schneller!«, sagte Irina.
Ich beschleunigte meine Schritte.
»Noch schneller!«
Ich fing an zu traben, zu laufen, zu rennen.
»Noch schneller!«
Ich legte einen Zahn zu. Wie ein Irrer tigerte ich auf der kleinen Bühne hin und her. Jedes Mal knapp vor den Seitengassen schliff ich mich ein und machte kehrt. Die Sohlen quietschten auf
den Brettern. Kleine Staubwölkchen stoben auf. Hinten begann das Bühnenbild zu wackeln. An der Decke schepperten die Scheinwerfer. Noch eine Wendung. Noch eine. Und noch eine.
»Stopp!«
Wie aus weiter Entfernung drang Irinas Stimme zu mir. Ich sackte einfach zusammen und plumpste auf die Bretter.
»Was sagt Körper jetzt?«
Ich horchte. Meine Lungen brannten, die Oberschenkel glühten, die Seiten stachen, das Herz polterte zwischen den Rippen herum. Mein Körper erzählte eindeutig die Geschichte seiner
eigenen Katastrophe, das Drama seines Niedergangs.
»Er sagt, dass er Schmerzen hat und nach Hause will«, keuchte ich.
»Wunderbar!«, freute sich Irina gut gelaunt. »Aber warum musst du erst wie Idiot rennen, um Körper zu verstehen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast zwei Möglichkeiten: Du kannst weiter Idiot sein. Oder du kannst ruhig bleiben, Ohren aufmachen und horchen!«
Damit stand sie auf, hopste in den Zuschauerraum hinunter und verschwand nach draußen. Offenbar war die erste Stunde beendet. Eine Weile blieb ich noch liegen, starrte an den Scheinwerfern
vorbei in die Deckendunkelheit hoch und hörte zu, wie sich in mir langsam wieder das Schweigen ausbreitete.
Nach der Körperarbeit war Janos dran. Wir wollten an den Monologen arbeiten, die ich in langen Nächten beim Heiligen Ernst oder unter Spaniens feuchtem
Landschaftsfleck auswendig gelernt hatte. Es waren große und bedeutende Monologe aus großen und bedeutenden Stücken: Hamlets Ringen um eine Entscheidung. Trigorins Arie des
Selbstmitleids. Fausts Beobachtungen beim Osterspaziergang. Franz Moors grausame Mordgedanken.
Zu Beginn war Marc Antons berühmte Rede ans Volk dran. Wie bei unserer ersten Begegnung saß Janos mit hochgelegten Beinen in der ersten Reihe und ließ seine Füße an
der Rampe wippen.
»Mitbürger! Freunde! Römer!«, rief ich und lauschte betroffen meinen eigenen Worten nach. Kurz war ich überwältigt von der Größe dieses Augenblicks. Da
stand ich auf den blutbesudelten Marmorstufen des Kapitols, im Rücken die geschundene Leiche meines Kumpels Cäsar und vor mir die dumpfe Tausendschaft der römischen Bürger. Ich
hörte ihr Zischeln, ihr Murren, ihr unwilliges Stöhnen, das beginnende Aufbegehren gegen diesen nicht vorgesehenen Redner. Eine einzige Handbewegung brachte sie zum Schweigen. Ich war
streng. Ich war charismatisch. Ich setzte meine Rede fort.
»Hört mich an: Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen! Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, das Gute wird –«
»Was soll die Scheiße?«, unterbrach mich Janos.
»Wie bitte?«, fragte ich ein wenig irritiert.
»Du klingst wie ein Jammerweib! Wenn du eine Rede halten willst, dann halt
Weitere Kostenlose Bücher