Jhereg
ein absolut durchschnittlicher Dragaeraner. Hellbraune Haare, darunter ein dünnes, kantiges Gesicht, darunter ein dünner, kantiger Körper. Seine Ohren waren ein kleines bißchen spitz. Gesichtsbehaarung hatte er natürlich auch nicht (weshalb ich mir einen Bart wachsen ließ), aber davon abgesehen war es schwierig, einen Dragaeraner nur durch sein Aussehen von einem Menschen zu unterscheiden.
»Wie?« fragte ich noch einmal.
Er zog die Brauen hoch. »Du willst es wirklich wissen?«
»Bist du bereit, es mir zu erklären?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht, ehrlich. Ich mache das nicht mit Absicht. Die Leute bemerken mich einfach nicht. Deshalb bin ich auch nie ein guter Dragonlord geworden. Ich habe mitten in einer Schlacht einen Befehl erteilt, und niemand hat zugehört. Die haben mich deswegen ständig angemacht, bis ich ihnen schließlich gesagt habe, daß sie sich meinetwegen die Fälle der Toten runterstürzen können.«
Ich nickte und beließ es dabei. Der letzte Teil, das wußte ich, war gelogen. Er hatte das Haus der Dragon nicht aus freien Stücken verlassen; er war ausgestoßen worden. Das wußte ich, und er wußte, daß ich es wußte. Aber er wollte die Geschichte nun einmal so erzählen, also akzeptierte ich es so.
Verdammt, ich hatte meine eigenen Wunden, an die ich Kragar nicht ranließ, da konnte ich ihm kaum übelnehmen, wenn er mich von seinen fernhielt.
Ich sah mir den Dolch an, den ich die ganze Zeit in der Hand hatte, prüfte Schärfe und Handhabung und ließ ihn in das umgekehrte Springfutteral unter meinem linken Arm gleiten.
»Ich möchte meinen«, wechselte Kragar das Thema, »daß du Mellar besser erst dann von deinem Interesse an ihm wissen läßt, wenn es sich nicht vermeiden läßt.«
»Glaubst du, er würde mich angreifen?«
»Bestimmt. Auch jetzt noch hat er mit Sicherheit eine Art Organisation. Sie wird größtenteils auseinandergefallen sein, oder sie ist gerade dabei, aber er hat ganz bestimmt noch persönliche Freunde, die gerne etwas für ihn tun.«
Ich nickte. »Ich wollte es auch nicht an die große Glocke hängen.«
»Das dachte ich mir. Ist dir schon was eingefallen, wie wir das Problem angehen, ihn zum Verlassen vom Schwarzen Schloß zu bewegen?«
Ich warf einen weiteren Dolch auf den Haufen in der Kiste mit den gebrauchten. Dann suchte ich mir Ersatz aus, den ich prüfte, und schob ihn in den Stoffschlitz außen am linken Ärmel von meinem Umhang. Probeweise zog ich den Dolch einmal hervor und gab noch ein bißchen Öl an die Klinge. Dann schob ich sie hin und her, um es zu verteilen, und machte weiter.
»Nein«, antwortete ich. »Ich hab noch nicht einmal einen Anflug einer Idee, um ehrlich zu sein. Ich arbeite noch dran. Du hast wohl auch nichts, oder?«
»Nein. Das ist dein Job.«
»Tausend Dank.«
Ich überprüfte die Ausrichtung der Wurfpfeile und füllte die Spitzen mit meiner eigenen Mischung aus Blut-, Muskel- und Nervengift. Dann legte ich sie zum Trocknen zur Seite, warf die benutzten weg und sah mir den Schuriken an.
»Eigentlich«, sagte ich, »wollte ich ihm zu verstehen geben, daß wir nicht mehr nach ihm suchen, und dann vielleicht was Nettes als Fluchtmöglichkeit vortäuschen. Leider glaube ich aber kaum, daß wir das in drei Tagen schaffen können. Verdammt, ich hasse es, unter Zeitdruck zu arbeiten.«
»Das wird Mellar aber unheimlich leid tun.«
Darüber dachte ich kurz nach. »Jetzt, wo du das sagst, vielleicht hast du da recht. Ich glaube, ich frage ihn mal.«
»Was?«
»Ich würde ihn gerne mal kennenlernen, mit ihm reden, mal sehen, wie er wirklich ist. Irgendwie weiß ich immer noch nicht genug über ihn.«
»Du spinnst! Wir haben doch gerade beide gesagt, daß du ihm nicht über den Weg laufen möchtest. Damit wird er merken, daß du hinter ihm her bist, und das macht ihn mißtrauisch.«
»Wirklich? Denk mal nach. Er wird wissen, daß ich für Morrolan arbeite. Mittlerweile ist ihm klar, daß Morrolan ihm auf die Schliche gekommen ist, also wird er wahrscheinlich einen Besuch von seinen Sicherheitsleuten erwarten. Und wenn er doch Verdacht schöpft, was soll’s? Natürlich verlieren wir das Überraschungsmoment, aber er wird das Schwarze Schloß nicht verlassen, ehe er bereit ist oder Morrolan ihn rauswirft. Was kann er also dagegen tun?
Er kann mich im Schwarzen Schloß nicht töten, aus dem gleichen Grund, aus dem ich ihn dort nicht erledigen kann. Wenn er vermutet, daß ich ihm auf den Fersen bin, wird er
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