Jillian Hunter
„Musst du es ihnen wirklich sagen?"
„Ich fürchte, dieses Mal bist du zu weit gegangen, Chloe Ein Kuss hinter einer Kutsche ist eine Sache."
„Du könntest mir ebenso gut eine Schlinge um den Hals le- gen", verkündete sie trübsinnig. „Oder mich auf einen Frach- ter werfen und in die Kolonien verschiffen."
„Ich bezweifle, dass sie in den Kolonien etwas mit dir anfan- gen könnten."
„Onkel Humphrey", bat sie verzweifelt, „ich dachte, du wür- dest mich verstehen. Ich habe nur getan, was ich tun muss- te."
Er entwurzelte eine Gruppe Fliegenpilze mit seinem Spa- zierstock. „Du hättest mich um Hilfe bitten können, Chloe."
„Er hat es mir nicht erlaubt."
„Aber er hat dir erlaubt, ihm zu helfen?"
„Das wollte er auch nicht. Aber als ich das mit Brandon he- rausfand ..."
„Brandon?"
„Dominic glaubt, dass Sir Edgar Brandon und Samuel in Nepal töten ließ, weil sie herausgefunden hatten, dass er bri- tische Militärgeheimnisse an die Franzosen verkauft hat. Ihr eigener Vorgesetzter hat den Hinterhalt arrangiert."
„Großer Gott."
„Er scheint kein Gewissen zu haben, Onkel Humphrey."
„Dominic", sagte er und schüttelte betrübt den Kopf. „Jetzt nennen wir den Geist also schon beim Vornamen, ja?"
„Wie hast du herausgefunden, dass er noch lebt, Onkel Humphrey?"
„Sein Wildhüter Finley und ich haben die Köpfe zusammen- gesteckt. Ich hatte bereits seit einiger Zeit den Verdacht, dass hinter Stratfields Tod mehr steckte, als es schien. Finley und ich hatten beide das Gefühl, dass nicht nur ein einfacher Wil- derer im Wald herumspukt."
„Spuken ist das richtige Wort."
„Nachdem Finley und ich uns unterhalten hatten, stellte er spätabends im Haus einige Nachforschungen an. Er wusste, dass sein Herr noch lebt, aber er hätte ihn um nichts in der Welt verraten."
„So wie sein Onkel es getan hat", murmelte sie.
„Ja." Er warf ihr einen zornigen Blick zu. „Was keine Ent-
schuldigung und auch keine Erklärung dafür ist, dass du dich mit ihm eingelassen hast."
„Nein, das stimmt."
Chloe war ein wenig außer Atem, weil die beiden mittler- weile beinahe durch das hohe Gras rannten. Gleichzeitig versuchte sie sich selbst davon zu überzeugen, dass Dominic nicht um sein Leben kämpfte, während sie Onkel Humphrey Rede und Antwort stehen musste.
„Ich dachte, wir beide verstehen uns, Chloe. Ich dachte, du wärest auf dem Weg der Besserung."
„Das dachte ich auch, Onkel Humphrey."
Er grunzte. „Und wie genau sollte es dir dann helfen, einen Mann in deinem Zimmer zu verstecken?"
23. KAPITEL
Die ganze Nacht hindurch hatte Dominic ein Katz-und-
Maus-Spiel mit dem Colonel getrieben. Er hatte einen geheim-
nisvollen Hinweis nach dem anderen hinterlassen und so eine
Spur von seinem Schlafzimmer zu dem Geheimgang in der
langen Galerie gelegt, dann weiter durch die engen Tunnels
unter dem Haus bis hin zu dem unterirdischen Verlies, in dem
er seine Rachepläne geschmiedet hatte.
Jetzt, an diesem ruhigen Sonntagvormittag, würde er das
Spiel zu Ende bringen. Das Anwesen war menschenleer, al-
lein die schwarzen Schwäne, die über den See glitten, blieben
noch als Zeugen für das, was geschehen würde. Die Nachbarn
waren zur Kirche gefahren, der langatmige Pastor hatte soe-
ben mit seiner Predigt begonnen.
Chloe zappelte wahrscheinlich gerade auf der Kirchenbank
herum, vielleicht kokettierte sie sogar mit diesem Idioten St.
John, um sich die Langeweile zu vertreiben. Dominic hatte
durch das Teleskop beobachtet, wie sie mit ihren Verwandten
in die Kutsche gestiegen war. Das Gefährt war noch nicht wie-
der zurückgekehrt, zumindest also konnte er in der Gewiss-
heit handeln, dass sie bei ihrer Familie in Sicherheit war.
Adrian hielt im Torhaus Wache.
Edgar war jetzt so nah, dass Dominic seinen Atem hören
konnte, die Erschütterung seiner vorsichtigen Schritte auf
der verborgenen Treppe, die zu Dominics Räuberhöhle führ-
te.
„Verdammt, wo bist du?", murmelte sein Onkel in der sti-
ckigen Leere. „Komm heraus, und zeig mir dein Gesicht. Lass
dies im Freien geschehen." „Warum?", rief Dominic leise hinauf. „Warum, wo du doch
seit Jahren im Dunklen daran gearbeitet hast, so viele Leben zu zerstören?"
Er hörte, wie der Colonel zögerte, spürte, wie er die gäh- nende Dunkelheit unter sich erforschte, um Dominics genaue Position zu ermitteln. „Was ist das für ein Unsinn, Dominic? Warum versteckst du dich vor mir?"
„Ich verstecke mich nicht,
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