Jillian Hunter
sie befürchtete, dass sie
gerade im Inneren stattfand. Hinter den Fenstern war keine
Bewegung zu sehen, aus den Schornsteinen stieg kein freund-
licher Rauch auf ... nirgendwo war ein Anzeichen von Leben
oder Tod. Ihr Herz fühlte sich schwer wie Blei an.
„Was sollen wir tun?", fragte sie ihren Onkel, als sie probe-
weise gegen das schwere, schmiedeeiserne Tor drückte und
feststellte, dass es zugekettet war.
„Du wirst gar nichts tun", erwiderte Sir Humphrey, „außer
hier im Torhaus zu warten, während ich drinnen nachsehe."
„Aber das Tor ist verschlossen."
Sir Humphrey schlug mit seinem Spazierstock gegen die
Eisenstäbe. „Finley! Machen Sie sofort auf! Finley, es ist drin-
gend - Sie müssen mich hereinlassen."
Die Tür des Torhauses ging auf, aber die schlanke Gestalt
von Adrian Ruxley trat heraus und nicht Dominics drahtiger
irischer Wildhüter. „Beruhigen Sie sich, Sir Humphrey", sag-
te er, als er auf das Tor zuging. „Sie machen ja genug Lärm,
um die Toten aufzuwecken."
Chloe begegnete seinem zuversichtlichen Blick, und ihre
Stimmung erhellte sich schlagartig. Er wirkte so unbesorgt.
Bedeutete das, dass es Dominic gut ging? War die Tortur end-
lich vorüber? „Lord Wolverton", erklärte Sir Humphrey eindringlich, „ich
glaube nicht, dass Sie hier stehen und Witze machen würden, wenn Sie den Ernst der Lage erkannt hätten."
„Ich verstehe", erwiderte der Viscount voller Respekt.
Sir Humphrey unterzog den Mann, der vor ihm stand, einer gründlichen Musterung. „Und warum sind Sie dann in die- sem Augenblick nicht bei Lord Stratfield?"
Adrian nahm einen schweren Messingschlüssel aus der Wes- tentasche. „Ich habe ihm das Versprechen gegeben, mich nicht einzumischen."
„Ich auch", sagte Chloe kaum hörbar. Sie blickte an ihm vor- bei zum Haus. „Aber verdammt, er scheint zu glauben, dass er unsterblich ist", murmelte sie. „Nur weil er einmal von den Toten auferstanden ist, heißt das noch nicht, dass er das noch einmal tun kann. Man nennt so etwas ,das Schicksal heraus- fordern'."
„Diesmal ist es etwas anderes." Adrian blickte sie genau an. Sie beide kannten unterschiedliche Seiten von Dominic, unterschiedliche Stärken und Schwächen. „Dominic ist nicht im Nachteil. Er hat diese Begegnung ebenso genau vorausge- plant wie Sir Edgar seine brutalen Morde."
Chloe versuchte, in diesen Worten Trost zu finden. An Adri- ans Vertrauen in Dominics Fähigkeiten war wirklich etwas Tröstliches. Vielleicht war dies eine männliche Eigenschaft, die sie nicht verstand. Sie wollte seinen Glauben und seinen Mut teilen, aber sie war überzeugt davon, dass sie so lange nicht ruhig atmen könnte, bis sie Dominic mit ihren eigenen Augen wiedersah.
„Und es ist mir egal, was wir ihm versprochen haben", ver- kündete sie, als das Tor aufging, um ihnen Einlass zu gewäh- ren. „Sie müssen wenigstens sicherstellen, dass er wirklich keine Hilfe braucht. Der Colonel ist ein verzweifelter Mann. Ihm wird bewusst werden, dass er nichts mehr zu verlieren hat, nun da sein Verrat aufgedeckt ist. Er wird bis auf den Tod kämpfen ..."
„Ich habe Stratfield kein derartiges Versprechen gegeben", erklärte Sir Humphrey fest entschlossen. „Treten Sie zur Sei- te, Lord Wolverton. Es ist meine Pflicht, meinem Nachbarn in Zeiten der Not hilfreich zur Seite zu stehen."
Adrian zögerte und blickte nachdenklich zum Haus hinü-
ber, bevor er beiseitetrat, um Sir Humphrey durch die Tür des Torhauses eintreten zu lassen. In seinem Blick war genü- gend Unsicherheit, um Chloes Bedürfnis, etwas zu unterneh- men, erneut anzufachen. Es war noch nicht ausgestanden. Der Viscount hätte nicht so ausgesehen, wenn es vorbei gewe- sen wäre.
„Sei vorsichtig, Onkel Humphrey." Chloes Herz schmerzte aus Liebe zu ihm. Dann wandte sie sich Lord Wolverton zu. „Ich ertrage den Gedanken nicht, dass einem von den beiden etwas zustößt."
Einige Augenblicke lang betrachtete Adrian prüfend ihr Ge- sicht, dann schüttelte er geschlagen den Kopf. „Ich werde ge- hen und Ihren Onkel beschützen. Aber wenn Dominic glaubt, dass ich mein Versprechen gebrochen habe, werde ich mir das bis ans Ende meiner Tage anhören müssen."
„Danke", sagte Chloe und blickte an ihm vorbei auf das Haus. Sie musste hineingehen und in der Nähe bleiben, falls Dominic Hilfe benötigte.
Adrian berührte ihr Handgelenk. „Finley ist verschwunden. Er sollte eigentlich das Torhaus bewachen, aber er war ein bisschen zu lange
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