Jillian Hunter
ihn persönlich zum Altar eskortieren - ein weiterer Skandal im Hause Boscastle, Grayson würde ihr den Hals umdrehen. Allein der Gedanke, dass Dominic sich vermutlich nicht wehren würde, beruhigte sie ein wenig.
„Stimmt etwas nicht?", flüsterte Pamela, als sie gemeinsam zum Gebet niederknieten.
Chloe blickte auf. Ihr war eben erst bewusst geworden, dass weder Lord Wolverton noch Sir Edgar dem überlangen Got- tesdienst beiwohnten, aber das hätte sie wohl nicht überra- schen sollen. „Warum fragst du?"
„Du seufzt und zappelst die ganze Zeit herum."
Chloe senkte den Blick. Es stimmte wirklich etwas nicht mit ihr. Hier saß sie nun auf den Knien in einer ruhigen, mit Efeu bewachsenen Pfarrkirche, den Kopf fromm gebeugt, und betete für die Seele eines Mannes, der sie vor weniger als vier- undzwanzig Stunden in einer Abstellkammer auf dem Boden verführt hatte.
Sie hätte um Vergebung bitten sollen. Oder darum, dass ih- re Familie nie herausfand, was sie getan hatte.
Aber nein. Sie betete, dass Dominic nicht losging und sich wirklich töten ließ, sondern weiterlebte, um sie erneut zu ver- führen. Und ihr eine anständige Zukunft anzubieten.
Er hatte doch gesagt, dass er zu ihr zurückkommen würde, nicht wahr?
Sie setzte sich auf den Knien um. Vor lauter Sorge - und weil sie letzte Nacht ja kaum geschlafen hatte - war ihr ein wenig kalt. Wie lange konnte Pastor Grimsby noch mit dem
Gebet fortfahren? Er musste inzwischen jede Sünde mindes- tens zweimal erwähnt haben.
„Chloe." Pamela stupste sie, als das Gebet endlich zu Ende ging und sie wieder ihre Plätze einnahmen. „Soll ich dir et- was sagen?", flüsterte sie.
Ja. Sie wollte wissen, dass Dominic auf sie wartete, wenn sie nach Hause kamen, und dass Sir Edgar für all das Böse be- zahlen würde, das er angerichtet hatte. Allerdings musste sie befürchten, dass ihre Cousine ihr wohl kaum befriedigende Auskunft geben konnte.
„Was?", flüsterte sie zurück.
„Ich habe mir dein Korsett ausgeliehen."
Chloe setzte sich ein bisschen gerader hin und betrachtete ihre Cousine aus den Augenwinkeln. „Oh? Ist ein weiterer Tanz geplant?"
„Nein." Pamelas samtigweißes Gesicht errötete kleidsam unter den Sommersprossen. „Ich trage es jetzt gerade."
„Du böses Ding", neckte Chloe.
„Es war deine Idee."
„Meine?"
„Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast vorgeschlagen, dass ich es zur Kirche tragen soll. Habe ich es richtig an?"
„Es ist etwas schwer, das unter der Jacke zu beurteilen, Pam- ela."
„Oh. Natürlich." Pamela zappelte noch ein bisschen, dann fuhr sie flüsternd fort. „Soll ich dir noch etwas sagen?"
„Warum nicht? Alles ist interessanter als diese Predigt."
„Justin wird die Seymour-Erbin heiraten. Sein Bruder hat es mir gestern Abend gesagt. Es tut mir leid, Chloe."
„So ist das Leben, Pamela."
„Bist du gar nicht traurig?"
„Nicht wegen Justin. Ich kann mir nicht vorstellen, einen Mann zu heiraten, der mit dem Fuß aufstampft, um seinen Willen durchzusetzen. Das ist ein bisschen so, als würde man sich mit seinem ersten Pony verloben."
„Mir ist noch etwas eingefallen", flüsterte Pamela.
Tante Gwendolyn zog eine Grimasse. „Seid doch ruhig, Mädchen."
„Was?", flüsterte Chloe ihrer Cousine zu.
Ein letztes Mal schlug Pastor Grimsby laut mit der Faust auf die Kanzel. Die Gemeinde stieß einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.
„Alle Frauen in der Gemeinde hatten gehofft, dass Lord Wol- verton heute zur Kirche erscheinen würde, damit sie sehen können, wie er bei Tageslicht aussieht." Pamela machte eine Pause. „Ich vermute, er hat Wichtigeres vor."
Chloe zwang sich, zu lächeln. Wichtigeres. „Das nehme ich auch an."
Der Himmel war bedeckt, als der Gottesdienst zu Ende ging. Das Krächzen der Krähen auf den fernen Feldern grüßte die Gemeindemitglieder, die ins Freie strömten. Chloes Laune hatte sich bei Pamelas beiläufiger Feststellung schlagartig verschlechtert, und die Worte bildeten einen verstörenden Ref- rain in ihren Gedanken.
Ich vermute, er hat Wichtigeres vor.
Was konnte Adrian an einem ruhigen Tag wie diesem Wich- tigeres vorhaben? Er konnte Dominic nicht dabei helfen, Sir Edgar herauszufordern. Diese Begegnung würde im Dunkeln stattfinden und nicht an einem friedlichen Sonntagmittag, wenn praktisch das ganze Dorf einträchtig über den Kirch- weg spazierte, an den schiefen Kreuzen auf dem Friedhof vor- bei hin zu den geparkten Kutschen.
Tante Gwendolyn sprach
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