Jillian Hunter
gewesen wäre.
Es sei denn, sie bedeckten seine Leiche oder kümmerten sich um seine Wunden. Oder sie mussten den Colonel überwäl- tigen und ...
Chloes Kopf war voller unaussprechlicher Bilder. Dominic würde siegen. Dieses Mal war er seinem Onkel gegenüber im Vorteil. Schließlich hatte er wochenlang Zeit gehabt, sich vor-
zubereiten und Pläne zu schmieden. Er hatte ihr versprochen, zu ihr zurückzukommen, und er war in jedem Fall ein Mann, der zu seinem Wort stand. Er war entschlossen, ihr Teufel, die andere Hälfte ihrer bösen Seele.
Sie erstarrte, weil sie schwere Schritte aus dem Inneren des Ganges hörte. Furchtsam wirbelte sie herum und sah nichts mehr außer der Gestalt, die ins Licht hinaustrat.
Eine beängstigende Sekunde lang erkannte sie ihn nicht.
Ihr Mund öffnete sich zu einem tonlosen Lachen. Seine gro- ße, schlanke Gestalt war mit einer dicken Schicht aus wei- ßem, körnigem Staub bedeckt. Ein geisterhaftes Leichentuch von Kopf bis Fuß. Sein Haar, seine Augenbrauen, seine Wan- gen, die Schultern und Ärmel seines spitzenbesetzten Straßen- räuberhemdes, die schwarzen Kniehosen und Schaftstiefel.
Aber er war es, heil und in Sicherheit, und er kam auf sie zu, während sie dastand und wie versteinert war von seinem Anblick und der Bedeutung des Ganzen.
„Gott sei uns gnädig!", kreischte ein Küchenmädchen vom unteren Ende der Treppe. „Er ist es leibhaftig - der Geist von Stratfield!"
Tante Gwendolyn legte die Arme um Pamela, die Federn auf ihrem Hut bebten. Verstohlen ließ Chloe den Schürhaken zu Boden gleiten.
Stille fiel über die Galerie. Niemand bewegte sich. Niemand wagte es, noch zu sprechen. Chloe begann zu lächeln. So staub- bedeckt, wie er war, sah er wirklich wie ein Geist aus, der eben dem Grab entstiegen war.
Dann fiel Dominics spöttischer Blick auf Chloes Gesicht, und das reine Feuer der Leidenschaft flackerte in seinen ent- schlossenen grauen Augen auf. Sie war sich nicht einmal der Tatsache bewusst, dass sie sich bewegte, dass sie auf ihn zu- ging. Er war zurückgekehrt. Er hatte sein Wort gehalten, und plötzlich war alles auf der Welt wieder gut. Wilde, reinigende Freude stieg in ihr auf.
Plötzlich mussten neue Probleme bewältigt und Konsequen- zen überdacht werden. Sie hielt an.
Wenn sie zu ihm ging, würden es alle wissen, würden alle erkennen, dass sie eine Liebesbeziehung hatten. Und dass die kokette junge Dame aus London dieses Mal in die schlimms-
ten, bösesten Schwierigkeiten ihres Lebens geraten war.
Und damit würden sie alle recht haben.
Dominic machte es Chloe unmöglich, so zu tun, als wären sie kein Liebespaar, und darauf zu warten, bis sie alleine waren, um sich zu umarmen. Er ging geradewegs auf sie zu und zog sie in seine Arme. In diesem Moment brauchte er das Gefühl, ihre Wärme und ihre Zustimmung zu spüren, und er musste ihr versichern, dass alles, was er ihr versprochen hatte, auch eintreten würde. Voller Staunen und Erleichterung blickte sie in sein Gesicht hinauf, und ihre schönen blauen Augen leuch- teten unter Tränen.
„Es ist vorbei", sagte er und neigte den Kopf, um sie zu küs- sen. „Heirate mich, Chloe Boscastle. Werde meine Frau."
Bei dieser unerwarteten Entwicklung schnappten Lady Dewhurst und ihre Tochter einhellig nach Luft. Die versam- melte Dienerschaft von Stratfield Hall, die sich offensichtlich nicht darüber im Klaren war, ob Dominic nun ein Mensch oder ein Geist war, beobachtete die Szene in sprachloser Fas- zination.
Keinem von ihnen schenkte Dominic auch nur das geringste bisschen Aufmerksamkeit. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Frau zu küssen, die ihm Kraft geschenkt hatte, die Frau, die der einzige Grund dafür war, warum er so lange überlebt hatte, ohne den Verstand zu verlieren.
„Chloe", sagte er und fuhr mit seinen großen Händen ih- re zarten Gesichtszüge nach. Seine Berührung war sanft und doch zugleich leidenschaftlich und beschützend. Er war vol- ler Bewunderung und Sorge gewesen, als Finley ihm erklärt hatte, wie sie ihn geistesgegenwärtig in der Bibliothek gefun- den und ihn fürsorglich befreit hatte.
Dominic liebte Chloes ungestüme, sture Seite, und er lieb- te den Teil von ihr, der verletzlich und ein wenig vom Leben überfordert war und ihr bereits so viele Schwierigkeiten einge- handelt hatte. Er bedauerte lediglich, dass er sie nicht schon vor Jahren kennengelernt hatte, als er noch einen besseren Eindruck auf ihre Familie gemacht hätte. Ja, den verschwore-
Weitere Kostenlose Bücher