Jillian Hunter
Steinen erdrückt, lag Sir Edgar auf dem Boden vergra- ben, nur sein Degen glänzte noch im Staub. Auf der letzten Stufe verlangsamte Dominic seinen Schritt, um seinem stum- men Gefährten, dem Knochenbaron, einen letzten Gruß zu entbieten.
„Nun, jetzt sind wir beide endlich frei, guter Freund, aber es scheint mir nicht rechtens, dich in einer so würdelosen Po- sition hier zurückzulassen. Nicht nachdem wir so viele Ver- traulichkeiten miteinander geteilt haben. Du hast dir wenigs- tens ein anständiges Begräbnis verdient, weil du dir meine Leidensgeschichte so geduldig angehört hast. Das habe ich dir versprochen."
„Und da komme ich ins Spiel." Ein Lichtstrahl drang aus dem Spalt in der Wand nach unten. Oben stand Finley und spähte mit einem erleichterten Grinsen zu seinem staubbe- deckten Herrn herunter. „Wie es aussieht, haben Sie eine Lei- che, die fortgebracht werden muss, Mylord."
Dankbar blickte Dominic zu dem zerschrammten Gesicht des irischen Wildhüters hinauf. „Finley, du kommst wirklich zur rechten Zeit! Sei vorsichtig mit dem Skelett, ja? Der arme Kerl hat lange genug gelitten. Und was meinen Onkel betrifft, nun, er wird nie wieder jemandem Schmerzen zufügen."
26. KAPITEL
Chloe und Finley hatten gerade die Bibliothek verlassen, als ein tiefes Donnern aus den Wänden des Hauses dröhnte. Es war ein markerschütterndes Geräusch, wie das warnende Stöhnen der Hölle, die losbrach. Chloes Herz schien stehen zu bleiben, als sie die scheinbar endlose Treppe zur langen Galerie hinaufrannte. Finley überholte sie, doch Ares blieb an ihrer Seite.
Sie waren nicht alleine.
Hinter ihr kehrten gerade die Dienstboten von Stratfield Hall aus der Kirche zurück. Ihre Karren klapperten durch das geöffnete Tor. In ein paar Minuten stünden sie wieder bereit, um die Befehle ihres Herrn entgegenzunehmen. Die Haushäl- terin würde sich die Schürze umbinden und Sir Edgar fragen, ob er das Mittagessen im Speisezimmer oder lieber in seinem Arbeitszimmer einnehmen wollte.
Es sei denn, Sir Edgars Tage an Dominics Tisch waren vo- rüber. Chloe gönnte sich am oberen Ende der Treppe keine Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Sonnenlicht strömte durch die Fenster der Galerie. Aber die Stille fühlte sich beun- ruhigend an, noch schlimmer als das Donnern, das ihr voran- gegangen war. Der Eingang zu Dominics Versteck stand weit offen und wirkte alles andere als einladend.
Sie rannte darauf zu.
Doch sie war nicht alleine.
Hinter ihr strömten Dominics gut ausgebildete Dienstbo- ten in einer Woge entrüsteter Vorahnung die Treppe hinauf, als spürten sie, dass etwas im Haus nicht stimmte. Hatte der Mörder wieder zugeschlagen? Warum sonst stand das Tor noch offen, und warum war Finley nirgends zu finden?
Würden sie Sir Edgar erstochen in demselben Bett auffin- den, in dem ihr früherer Herr gestorben war? Der Butler und die Lakaien übernahmen die Befehlsgewalt über die unge- wöhnliche Armee. Die Hausmädchen, die Staubwedel und Mops schwangen, bildeten die Nachhut. Und dann erhob sich über dem besorgten Geflüster eine herrische Stimme.
Die kleine Gestalt Lady Dewhursts, angetan in einem Fe- derhut und einer perlenbestickten Pelerine, bahnte sich einen direkten Weg zu Chloe. Ihre Tochter Pamela folgte ihr nach Atem ringend, begleitet von ihrem verwirrt aussehenden Liebsten Charles.
„Tante Gwendolyn!", rief Chloe und stählte sich, als sie den grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht der Frau sah. Sie hatte ganz sicher nicht gewollt, dass ihre Tante die Wahrheit auf diese Weise herausfand. „Was machst du hier?"
Gwendolyn spähte Chloe über die Schulter. „Ich sollte dich und meinen Gemahl dasselbe fragen. Wo ist der Schurke?"
„Von welchem Schurken redest du?"
„Spiel mir nicht die Unschuldige, junge Dame. Ich bin nicht dumm. Ich habe Pamela gefragt, was alle vor mir geheim hal- ten, und genau deswegen bin ich hier."
Chloe blickte hilflos zu Pamela hinüber, die hinter dem Rü- cken ihrer Mutter wieder begonnen hatte, eine ihrer unver- ständlichen Pantomimen aufzuführen.
„Du bist also hier, weil ... weil ... weil ich Pamela mein skandalöses Korsett geliehen habe?"
Tante Gwendolyn wirbelte herum, um die Figur ihrer Toch- ter zu betrachten. „Was für ein Korsett?"
Pamela schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wo- von ihr redet."
Vorsichtig trat Chloe näher an den Eingang des Verstecks. Adrian und ihr Onkel wären nicht so lange dort drinnen ge- blieben, wenn Dominic verletzt
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