Jillian Hunter
blickte sich um. Ein Licht hatte in einem Fenster seines Anwesens aufgeflackert. In seinem eigenen Schlafzimmerfens- ter. Er sah den Umriss seines Onkels hinter den Vorhängen, so wie eine bittere Erinnerung daran, dass er es sich nicht leisten konnte, vor Chloes Zimmer herumzustreunen wie ein brünstiges Tier.
Er senkte das Teleskop, und sein Lächeln verblasste. „Nun, noch einmal gute Nacht, Chloe", sagte er leise und wehmütig. „Ich muss noch etwas spuken ... und du, meine Liebe, wirst mich später bestimmt in meinen Träumen heimsuchen."
Chloe zündete auf dem Nachttisch eine Kerze an und ließ sich auf Hände und Knie herunter, um unter das Bett zu fassen. Erleichtert ertastete sie ihr Tagebuch unter der losen Diele, unter der sie es versteckt hatte.
Sie zog den dünnen Band heraus und trug ihn zu ihrem Bett. Auf der letzten Seite befand sich ihr neuester Eintrag. Eine genaue Kopie des verschlüsselten Briefes, um dessent- willen Dominic sich noch einmal in ihr Zimmer geschlichen hatte.
Offensichtlich war er ihm wertvoll genug erschienen, um das Risiko einzugehen, ihn wiederzubeschaffen. Sie gratu- lierte sich selbst dazu, dass sie so klug gewesen war, eine Kopie davon anzufertigen. Und dass sie ihren Bruder Heath gezwungen hatte, ihr einiges über die Kunst der Code-Ent- schlüsselung beizubringen.
Es war an der Zeit, ihr Wissen auf die Probe zu stellen und an dem Schriftstück zu arbeiten, das vielleicht Brandons letzte Nachricht war. Sie hatte Dominic schließlich nicht ge- holfen, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten.
12. KAPITEL
Als Chloe am nächsten Morgen zum Frühstück herunterging, war der ganze Haushalt in hellem Aufruhr. Onkel Humphrey rannte durch die Eingangshalle und hatte seinen Spazier- stock unter den braunen Umhang geklemmt. Sein Haar war ungekämmt, und sein Halstuch saß so schief, als hätte er es in aller Eile umgebunden. Er warf Chloe einen angsterfüllten Blick zu, als er sie am Fuß der Treppe bemerkte.
„Hol deinen Mantel, und flieh mit mir, solange du noch kannst, meine Liebe", flüsterte er dramatisch. „Der Wahnsinn ist über uns gekommen, und ich möchte unter allen Umstän- den vermeiden, davon erfasst zu werden."
„Was für ein Wahnsinn?", fragte Chloe, aber ihre Stimme wurde von dem lauten Gewirr weiblicher Stimmen aus dem Salon und von dem Gebell der Hunde übertönt, die draußen auf Humphrey warteten.
Pamela erschien in der Tür zum Salon. Ihr sommersprossi- ges Gesicht war gerötet, ihre Augen blitzten. „Oh, Chloe, end- lich bist du hier. Das Treffen hat bereits angefangen."
„Das Treffen", wiederholte Chloe verwirrt. Pamela trat auf sie zu, um sie in den Salon zu ziehen. „Was für ein Treffen?"
„Meine Mutter hat die Damen von Chistlebury einberufen, um über unsere große Krise zu beratschlagen."
Hinter ihren Schläfen verspürte Chloe plötzlich die unange- nehme Spannung von beginnenden Kopfschmerzen. Sie war ärgerlich und müde, weil sie bis vier Uhr morgens erfolglos ver- sucht hatte, Brandons Brief zu entschlüsseln. Außerdem wuss- te sie nach wie vor nicht, ob Dominic sie in der Nacht wirklich berührt hatte oder ob all die verruchten Dinge, die er mit ihr angestellt hatte, nur ihrer Fantasie entsprungen waren.
Sie konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer wäre. Ganz sicher wusste sie hingegen, dass sie nicht in der Stim- mung war, sich hinzusetzen und über die Verfehlungen des Geistes von Stratfield zu diskutieren. Die Frau des Pastors er- hob sich und führte Chloe zu dem überfüllten Sofa, auf dem eine Matrone mit ihren beiden unverheirateten Töchtern saß und angeregt über diese beängstigende Bedrohung für den weiblichen Teil der Gemeinde sprach. Pamela quetschte sich neben sie.
Ein tiefes Schweigen fiel über den Salon. Die gesammelte Aufmerksamkeit richtete sich in einer Mischung aus verständ- nisvoller Neugier und prüder Missbilligung auf Chloe. Bei- nahe so, als hätte sie durch ihren Ruf diesen Skandal über das zu Tode gelangweilte Dorf gebracht. Sie räusperte sich und begegnete den Blicken mit einem arglosen Lächeln.
Plötzlich begannen die Frauen wieder zu sprechen.
Sie legte den Kopf auf die Rückenlehne des Sofas und un- terdrückte ein Gähnen. Die Ziffern aus Brandons kryptischer Botschaft tanzten vor ihren brennenden Augenlidern. Warum hatte er es für notwendig gehalten, in Nepal verschlüsselte Nachrichten zu schreiben? Waren die Agenten Napoleons bis zu jenem fernen Außenposten gesandt worden,
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