Jillian Hunter
und das auf mehr als eine Art, obwohl sie nun wusste, was ihn dazu gemacht hatte. Vielleicht war er für sie so gefährlich, weil sie Mitgefühl für ihn empfinden konnte.
Sie erinnerte sich daran, gedacht zu haben, wie traurig er damals im Wald gewirkt hatte, und sie begann zu verstehen,
warum. Es gab einen guten Grund für seine Melancholie. Zweifelsohne wäre es besser gewesen, wenn sie ihn nie wie- dergesehen hätte. Doch wenn die Gefahr, in der er schweb- te, auch Brandon in irgendeiner Weise betraf, dann sollte sie auch darin verwickelt werden.
Aber musste dieses Verlangen wirklich ein Teil des Ganzen sein? Sicherlich konnte sie ihm helfen, ohne sich näher mit ihm einzulassen. Fern von Dominic beschloss sie, dass sie es konnte. Und doch wusste sie tief in ihrem Inneren, dass sie Glück hatte, der Versuchung nicht mehr ausgesetzt zu sein.
Sie schrak auf, als Pamela sie mit einem Knuff aus ihren Ge- danken riss. „Warum siehst du so grimmig aus, Chloe?", flüs- terte sie mit einem schelmischen Grinsen. „Sie haben doch gesagt, dass ich das Opferlamm sein soll und nicht du."
„Du siehst allerdings gar nicht grimmig aus", sagte Chloe. Pamela grinste noch breiter. „Gib es zu", flüsterte sie. „Du bist ein bisschen neugierig darauf, wie es wäre, von dem Geist von Stratfield verführt zu werden."
„Natürlich bin ich das nicht", entgegnete Chloe. Weil sie es bereits wusste. Dieses schändliche Privileg war ihr erst kürz- lich zuteil geworden, und sie würde das wohl nicht so schnell wieder vergessen.
Die Kutsche hatte bereits das hohe, mit wildem Wein über- wucherte Torhaus des Anwesens passiert. Während Chloe noch ihr graues Seidenkleid glatt strich, brachte der Kut- scher die Pferde auf der mit Kies bedeckten Auffahrt vor dem eleganten spätelisabethanischen Haus zum Stehen.
Das alte Steinhaus mit seinen Mauertürmchen und Giebeln wirkte ebenso stolz und stark wie der Mann, dem es gehörte. Chloe meinte beinahe, Stratfield hinter den hohen Erkerfens- tern der großen Galerie sehen zu können, wie er zufrieden auf sein Anwesen herunterblickte. Ja, selbst ein Geist hätte bei dem Anblick der Schwäne, die majestätisch auf dem mondbe- schienenen See in dem tiefer liegenden Garten umherglitten, Ruhe finden können.
Ein Pferdeknecht und zwei Lakaien kamen von der Stein- treppe vor dem Eingang herbei, um ihnen zu helfen. Chloe spürte, wie ein seltsames Gefühl sie beschlich und sie Gänse-
haut bekam. Beobachtete sie jemand?
Sie blickte schnell auf, während Tante Gwendolyn ihren Ehemann gerade daran erinnerte, dass er das Essen nicht wie ein Wolf herunterschlingen sollte. Ein großer schwarzhaari- ger Mann mit breiten Schultern und der aufrechten, selbstbe- wussten Haltung eines Berufssoldaten kam auf sie zu.
In der Dunkelheit sah er seinem Neffen Dominic ähnlich genug, um Chloe den Atem zu rauben. Er wirkte gebieterisch und hatte dieselben nachdenklichen Augen und die gleichen fein geschnittenen Züge. Seine Stimme war jedoch anders, nicht ganz so tief und mit dem melodischen Klang seiner wa- lisischen Heimat. Er schenkte seinen Gästen ein einladendes Lächeln.
„Wie freundlich von Ihnen, so kurzfristig zu kommen", be- grüßte er sie und legte Humphrey eine Hand auf die Schulter. „Und wie glücklich wir Männer uns doch schätzen können, dass drei schöne Frauen unseren Tisch schmücken werden."
Sir Edgar lächelte Tante Gwendolyn und Pamela besonders freundlich an. Pamela erklärte ihm, dass sie sich den Knöchel verstaucht hatte und üblicherweise nicht so ungeschickt war, wie sie gerade erschien.
Zuletzt fiel sein Blick auf Chloe und verweilte dort eine ganze Weile. Sie erwiderte Sir Edgars Lächeln. Es war ein höflicher Reflex, den man ihr von der Wiege an eingetrichtert hatte. Nein, der Mann war nicht so überwältigend wie Domi- nic, außerdem um einige Jahre älter. In seinen Augen lag eine berechnende Klugheit, als wären jedes seiner Worte und jede Tat wohlüberlegt. Seine Haut war vom auswärtigen Dienst braungebrannt und sein Gesicht eckiger als das seines Neffen. Seine Manieren und Kleider erschienen tadellos, von seinem liebenswürdigen Willkommensgruß bis hin zu dem schneewei- ßen Halstuch und den glänzenden Stiefeln, die laut auf den Stufen klapperten.
„Lady Chloe", sagte er mit funkelnden dunklen Augen, „ich habe Ihre Familie stets bewundert. Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid zum Tod des jungen Lord Brandon auszuspre- chen. Ich war in Kathmandu, als der
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