Joanna Bourne
Glockengeläut. Und dennoch hat sich Colonel Reams zum Abendessen eingeladen. Zur Konferenz, wie er es nennt.«
»Dann werde ich ihm persönlich sagen, dass er mich mal kann.«
Doyle und Adrian folgten Grey den Gang entlang in das große Südzimmer. Die Sonne strömte durch die Vorhänge und brachte die Sammlung von Klingen zum Funkeln, welche von Geheimdienstagenten über die Jahre hinweg auf den Wandhaltern abgelegt worden waren. Große Ledersessel standen um den Kamin herum. Auf einem Tisch lag die Times , auf einem anderen ein Stapel Karten und eine lange Tonpfeife. Hunderte von Büchern waren dicht an dicht in Regale gestopft, die zwei Wände belegten.
»Ich brauche Montaigne und Tacitus«, erklärte Grey.
»Wer sind … ?«, fragte Adrian.
»Ein Franzose, beziehungsweise einer von diesen Römern.«
Doyle stapfte zu den Regalen neben dem Kamin. »Schon ’ne ganze Weile tot, weshalb ich mich frage, warum wir danach suchen. Zuerst Montaigne … das letzte Mal wurde er hier irgendwo gesichtet.« Er langte mit flacher Hand über die Bücher hinweg. »Versuch Tacitus mal da drüben. Roter Einband, wenn ich mich recht entsinne. Fletch hat uns das mit Anniques Augen erzählt. Da ist ein Doktor mit ’nem Haufen Titel, der sie sich ansehen will. Sein Bericht liegt auf deinem Schreibtisch. Die gute Nachricht ist, dass es wahrscheinlich dauerhaft ist. Die andere Neuigkeit ist nicht so gut. Leblanc ist in England.«
»Wir hatten bereits das Vergnügen. In einer Gasse in Dover hat er versucht, Annique zu erstechen.«
»Ein alter Hut also. Er hat an die zwanzig Mann mit über den Kanal gebracht. Der MI stöbert sie seit Montag entlang der Südküste auf, wodurch man überhaupt erst auf Anniques Spur gekommen ist.«
»Soulier schäumt vor Wut, verflucht sei sein verschlagenes französisches Herz.«
Adrian stützte sich an der Armlehne eines Sessels ab, griff nach einem zwanzig Zentimeter langen Wurfmesser und fing an, sich die Fingernägel zu schneiden. »Leblanc ist unaufgefordert und ohne Soulier zu informieren an unsere schönen Strände gekommen. Sorgt für viel Wirbel in den Taubenschlägen des französischen Geheimdienstes.«
»Und wär’s nicht toll, wenn Soulier Leblanc für uns umbringen würde?« Doyle arbeitete sich das Regal entlang. »Immerhin können sie sich nicht ausstehen.«
»Das kannst du mal rüberreichen … Leblanc ist verwundet, am rechten Oberarm. Henri Bréval hat einen Schnitt über den Knöcheln. Ich habe ihm vielleicht das Schlüsselbein gebrochen. Der Rest ist Anniques Werk.«
»Gefährliches kleines Ding«, sagte Adrian. »Und du hast sie hierher geschleppt, wo sie unseren Leuten jetzt aufs Übelste mitspielen kann. Wie aufregend.«
Doyle grunzte mit amüsiertem Blick.
»Noch mal zu unserem gefährlichen Ding.« Adrian untersuchte seine Fingernägel. »Ich frage mich … Warum die Badewanne? Sie ist zwar beweglich wie ein kleiner Aal, aber man raubt einem Mädchen doch nicht in kinnhohem Wasser die Unschuld. Das macht sie nervös. Für eine Jungfrau braucht man eine ebene Stelle. Und vor allem eine trockene. Auch weich, wenn’s sich einrichten lässt. Und dann musst du … «
»Ich komme schon ohne deine fachmännischen Ratschläge übers Entjungfern klar.« Grey spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Das Thema steht nicht zur Debatte.«
Doyle warf ihm einen trägen Blick zu. »Hab’s dir ja gesagt, Junge.«
»Und … «, Adrians Tonfall wurde schärfer, »… man lässt das Mädchen anschließend nicht allein, sondern bleibt in der Nähe, um da zu sein, wenn sie aufwacht.«
»Himmelherrgott«, brummte Doyle.
Hawker gefiel also nicht, wie er Annique behandelte. Na schön. Ihm selbst gefiel es ja auch nicht. »Sie muss sich eine Weile an den Gitterstäben zu schaffen machen können, um festzustellen, dass sie in der Falle sitzt. Danach braucht sie etwas Zeit, um sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Und während sie das macht, wird sie mich nicht dabeihaben wollen.«
»Und sie tritt dir nicht in die Eingeweide, wenn ihr danach ist«, fügte Adrian trocken hinzu.
»Das außerdem.« Vor allem aber würde er nicht versucht sein, noch einmal mit ihr zu schlafen, solange sie noch wund war.
Tacitus befand sich auf dem untersten Regal, bestand aus drei Bänden und war rot eingebunden. Es stand in Band eins. Als er ihn durchblätterte, sprang ihm die Passage entgegen. »… ist der Himmel zwar von Wolken und häufigem Regen verunstaltet, aber die Kälte ist niemals extrem.«
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