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Joanna Bourne

Joanna Bourne

Titel: Joanna Bourne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geliebte des Meisterspions
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herauskitzeln. Darin war er ein Experte. Er würde sie ihr wegnehmen und dabei hässliche Spuren auf ihrer Seele hinterlassen.
    Er konnte sie aber auch laufen lassen. Ein in jeder Hinsicht verführerischer Gedanke. Wenn er sie nicht festnahm, hätte er ein paar Tage mit Annique, in denen sie nicht sein Feind wäre. Vielleicht würde sie ihn dann weiter als eine Art weißen Ritter ansehen. War es das, was sie wollte?
    Sie kennt meine Stimme. Aber ich kann meine Stimme doch verstellen .
    In ihrer Kindheit im tiefsten Somerset hatten er und seine Brüder viel Zeit im Stall verbracht. Sie hatten die Sprache der Pferdepfleger imitiert und sich die eine oder andere Ohrfeige dafür eingefangen, wenn sie sie im Salon wiedergaben. Dieser breite Somerset-Akzent ging ihm immer noch leicht von der Zunge, wenn er mal daheim war.
    Er stimmte eine tiefere Tonlage an und sprach mit dem ihm vertrauten südwestenglischen Akzent: »Seid Ihr verletzt?« Sogar für seine eigenen Ohren klang er fremd.
    »Überhaupt nicht, danke sehr. Das war sehr mutig, so viele bewaffnete Männer anzugreifen … gleich drei auf einmal.«
    Er zuckte die Achseln. Reden würde er nicht viel. Wenn sie seine Stimme nicht so oft hörte, konnte sie ihn auch nicht daran erkennen.
    »Und bescheiden seid Ihr auch noch. Trotzdem habe ich es allein Euch zu verdanken, dass ich nicht wie ein Hering ausgenommen worden bin, was ich sehr zu schätzen weiß. Es war wirklich sehr heroisch von Euch, sich so entschlossen einzumischen, obwohl ich Euch doch völlig fremd bin.«
    »Das hätte jeder gemacht.« Er rechnete die ganze Zeit damit, dass sein nächstes Wort ihre Erinnerung wecken und ihn verraten könnte.
    »Vielleicht. Es gibt noch Edelmut auf der Welt.« Sie stieß sich von der Mauer ab, stapfte zu ihrem im Dreck liegenden Schal und hob ihn auf. »Aber er kommt nicht immer so pünktlich und mit derart effektiven Muskeln daher. Den habe ich von einer Freundin, deren Mutter ihn für sie gestrickt hatte.« Sie schüttelte ihn aus. »Man hätte ihn neben meiner Leiche gefunden, wenn Ihr nicht gekommen wärt.«
    Er gab einen unverbindlichen Laut von sich. Wenn er gut aufpasste, konnte er sie für ein oder zwei Tage zum Narren halten. Das würde eventuell schon reichen.
    »Heute Morgen habe ich sehr viel Glück gehabt, meint Ihr nicht auch? Ich weiß gar nicht, wie ich mich erkenntlich zeigen soll.«
    Sie lächelte ihn an. Wenn sie sich weiterhin jedem vorbeikommenden Fremden gegenüber so dankbar zeigte, würde einer von ihnen sie ins nächste Gasthaus schleppen, die Zimmertür von innen verriegeln und den genauen Beweis für die Größe ihrer Dankbarkeit fordern.
    Als sie etwas unsicher durch die Gasse stolperte und sich ab und zu an der Wand abstützte, begleitete er sie. Er blieb zwar in Reichweite, wagte es aber nicht, ihr zu helfen, auch nur einen Finger an sie zu legen. Eine einzige Berührung, und ihre Haut würde ihn erkennen.
    Ihr Orientierungssinn ließ sie nicht im Stich. Sie folgte einer langen Straße zurück und bog rechts ab. Und schon kam sie wieder zu dem kleinen Marktplatz mit dem dahinterliegenden Kai. An der Seite stand eine Reihe von Steinbänken. Sie setzte sich und schloss die Augen. Um sie herum drehte sich alles. Als sie die Augen wieder öffnete, war der große Mann im Fischerpullover immer noch da.
    Die Intensität des Sehens überwältigte sie auch weiterhin. Sie hätte die dunklen Haare an seiner Wange zählen können; jedes Einzelne war wunderschön.
    Er wischte sich die Hände an seinem stark nach Fisch riechenden Pullover ab und sagte: »Ihr seht nicht gut aus.«
    Sein Akzent unterschied sich von dem der englischen Schmuggler, die sie kannte, und seine Stimme drang kratzig aus seiner Kehle. Das kam vermutlich von den vielen Jahren auf See oder den Trinkgelagen an Land.
    »Mir geht’s gut.« Aber sie zitterte am ganzen Leib. Es war gut, dass sie einen ordentlichen Platz zum Sitzen hatte. »Außer dass ich in Todesangst war, weil ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, was wohl jedem Angst einjagen würde und eine Sache ist, an die ich mich nie gewöhnen könnte.«
    Der Seemann war ziemlich groß und offensichtlich stark wie ein Bär, was ohne Zweifel von Vorteil für die Seefahrt war. Er mochte um die achtundzwanzig oder dreißig Jahre sein. Sein braunes Haar war recht kurz geschnitten und wie Dachschindeln geschichtet. Seine Augen waren eine Mischung dunkler Schatten, so wie das Meer selbst. Hätte sie die Farbe benennen

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