Joe Kurtz 01 - Eiskalt erwischt
Tiefgarage zu gelangen, tauschte ein paar Höflichkeiten mit dem uniformierten Wächter an der Tür zu den Fahrstühlen aus und fuhr dann mit Kurtz in das sechste – und damit höchste – Stockwerk.
»Ich besorge uns einen Drink«, sagte sie, als sie die Wohnung betraten, schloss die Tür hinter sich ab und warf die Schlüssel in eine emaillierte Vase auf einem rot lackierten Beistelltisch. »Ist Scotch in Ordnung?«
»Sicher«, sagte Kurtz. Seit der Scheibe Toast am Morgen – inzwischen schon gestern Morgen war –, also seit ungefähr 20 Stunden hatte er nichts mehr gegessen.
Die Tochter des Dons hatte eine schicke Wohnung: unverputztes Mauerwerk, moderne Möbel, die trotzdem bequem wirkten, und einen riesigen 16:9-Flachbildschirm in einer Ecke des Raums mit dem üblichen Beiwerk wie DVD-Player, Videorekorder und Surround-System samt Subwoofer. An den Wänden hingen gerahmte Poster französischer Minimalisten, die aussahen wie Originale – und wahrscheinlich höllisch teuer gewesen waren. Eine Galerie unter Dachfenstern mit Hunderten von Büchern in schwarz lackierten Regalen und ein gewaltiges halbrundes Fenster, das die ganze Westwand dominierte und eine Aussicht auf den Fluss, den Hafen und die Lichter der Brücken bot, rundeten den Wohnbereich ab.
Sie reichte ihm einen Scotch. Er nippte daran. 25 Jahre alter Chivas Regal.
»Wollen Sie mir keine Komplimente zu meiner Wohnung machen?«
Kurtz konnte sich gerade noch bremsen. Ein lohnenswertes Objekt, wenn er sich als Dieb betätigen wollte, aber das würde sie wohl kaum als Kompliment durchgehen lassen. »Sie wollten mich in Ihre Theorie einweihen«, sagte er stattdessen.
Sophia nippte an ihrem Scotch und seufzte. »Kommen Sie her, Kurtz.« Sie fasste ihn nicht an, dirigierte ihn aber zu einem mannshohen Spiegel an der Tür. »Was sehen Sie?«, fragte sie, nachdem sie zurückgetreten war.
»Mich«, sagte Kurtz. Genauer gesagt sah er einen Mann mit eingesunkenen Augen, verfilztem Haar, einem zerrissenen blutigen Hemd, einem frischen Kratzer auf der Wange und Rinnsalen von getrocknetem Blut an Gesicht und Hals.
»Sie stinken, Kurtz.«
Er nickte und nahm die Bemerkung so, wie sie gemeint war – als Tatsachenbeschreibung.
»Sie sollten duschen und sich frische Klamotten anziehen.«
»Später.« Es gab kein warmes Wasser und keine saubere Kleidung in seinem Lagerhaus-Unterschlupf.
»Jetzt«, forderte Sophia, ohne Widerspruch zu dulden, nahm sein Scotchglas und stellte es auf der Anrichte ab. Sie ging in ein Badezimmer am Ende des kurzen Flurs zwischen Wohnzimmer und dem vermutlichen Schlafzimmer. Kurtz hörte fließendes Wasser. Sie streckte den Kopf in den Flur heraus. »Kommen Sie?«
»Nein.«
»Gott, sind Sie paranoid.«
Ja, dachte Kurtz, aber bin ich auch paranoid genug?
Sophia hatte ihre Schuhe von den Füßen geschleudert und zog sich jetzt die Bluse und den Rock aus. Sie trug darunter nur ein weißes Höschen und einen dazu passenden BH. Mit einer Bewegung, die Kurtz seit mehr als elf Jahren nicht mehr im wirklichen Leben gesehen hatte, löste sie den Verschluss des BHs und warf ihn zur Seite. Dann stand sie da, in ihrem weißen, spitzenbesetzten, aber gewiss nicht billigen Höschen, das an den Schenkeln hoch geschnitten war. »Nun?«
Kurtz kontrollierte die Tür. Verriegelt und abgeschlossen. Er kontrollierte die kleine Küche. Auch da eine Tür, verschlossen und mit eingehängter Sicherheitskette. Er trat kurz auf die Terrasse hinaus. Es war kalt und begann gerade zu regnen. Keinerlei Möglichkeit, auf den metallischen Vorsprung zu gelangen, wenn man sich nicht gerade vom Dach abseilte. Er ging wieder hinein, an Sophia vorbei – die die Arme vor ihren vollen Brüsten verschränkt hielt, aber vom plötzlichen Zustrom kalter Luft immer noch eine Gänsehaut hatte – und kontrollierte das Schlafzimmer, sah in sämtliche Schränke und unter das Bett.
Dann kam er zurück zum Badezimmer.
Sophia war jetzt nackt und stand unter dem warmen Wasserstrahl. Ihr langes lockiges Haar war bereits klatschnass. »Mein Gott«, erscholl ihre Stimme aus der offenen Duschkabine. »Sie sind echt paranoid.«
Kurtz zog sich die blutigen Klamotten aus.
Kurtz war erregt, aber nicht so sehr, dass er die Kontrolle verloren hätte. Nach den ersten paar Jahren ohne Sex war ihm klar geworden, dass die Begierde konstant blieb, aber die Fixierung darauf machte Männer entweder wahnsinnig – er hatte viele davon in Attica erlebt – oder sie pendelte sich bei einer
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