Joe von der Milchstraße
Leiche machte eine beschwörende Geste mit der rechten Hand, wobei Teile der Hand sich lösten und in dem schmutzigen, trüben Wasser davontrieben. An der Hand befanden sich jetzt nur noch zwei Finger. Der Anblick verursachte in Joe eine heftige Übelkeit. Könnte ich doch nur noch einmal die Uhr zurückstellen, dachte er. Dann wäre ich nie hierhergekommen. Aber die Leiche hatte das Gegenteil gesagt; sein Kommen bedeutete ihre – und seine – Erlösung. Lieber Gott im Himmel, dachte Joe. Bald werde ich dieses Ding sein! Meine Glieder werden einzeln abfallen und von gefährlichen Fischen aufgeschnappt werden! Ich werde mich in einer Kiste hier unten auf dem Meeresgrund verstecken müssen, und die Fische werden mich Stück für Stück auffressen!
Vielleicht ist es auch alles nicht wahr. Vielleicht ist dieses Wesen nicht meine Leiche. Wer wird schon mit seiner eigenen Leiche konfrontiert, noch dazu mit einer Leiche, die einen anfleht! Die Kalenden steckten dahinter! Aber das gab auch keinen Sinn. Schließlich hatte die Leiche ihn entgegen Malis Erwartung eindringlich gebeten, zu bleiben und mit seiner Arbeit zu beginnen!
Glimmung! dachte er. Glimmung hat dieses ganze phantastische Spektakel inszeniert, um mich zum Verschwinden zu bewegen!
»Schönen Dank für deinen Ratschlag. Ich werde darüber nachdenken«, sagte er zu der Leiche, die immer noch mit Armen und Beinen schlenkernd in seiner Nähe trieb.
»Ist meine Leiche auch hier?« fragte Mali.
Keine Antwort. Joes leibliche Überreste waren ins Dunkel abgetrieben. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte Joe sich. »Lieber Himmel! Was soll man denn zu seiner eigenen Leiche sagen! Ich sagte ihr doch, ich würde ihren Ratschlag überdenken! Was kann sie denn noch von mir verlangen?« Merkwürdigerweise verspürte er jetzt Wut; die Angst und das Grauen waren einem ganz banalen Zorn gewichen, den man verspürt, wenn man nicht mehr weiter weiß. Dieser Druck war einfach unfair. Schließlich hatte die Leiche ihn ja darum gebeten, weiter an dem Projekt mitzuarbeiten! Dann dachte eran den Fluch.
»Tod«, sagte er zu Mali, die jetzt dicht neben ihm schwamm, »und Sünde sind untrennbar miteinander verbunden. Das bedeutet, daß wenn die Kathedrale verflucht ist –«
»Ich gehe wieder an die Oberfläche.« Sie stieß sich vom Boden ab und schwamm mit geschickten Beinbewegungen nach oben. »Ich möchte nicht zu nahe in den Bereich der Hebemaschine kommen!« Sie deutete mit der Hand auf etwas.
Joe folgte mit den Augen ihrer Handbewegung und sah ein riesiges, lautlos arbeitendes Instrument, das er nie zuvor gesehen hatte. Es befand sich ein ganzes Stück von ihnen entfernt. Nun hörte er auch ein gleichmäßiges, leises Pochen. Es war schon die ganze Zeit da gewesen; jedoch so schwach, daß es an der unteren Gehörgrenze lag. Vielleicht hatte er es nur als Vibration wahrgenommen; vielleicht nahm er es auch jetzt nur als Vibration wahr. »Was ist das?« fragte er Mali und machte Anstalten, sich auf das Aggregat zuzubewegen; es faszinierte ihn.
»Ein Caprix-Schaufelgerät« sagte Mali. »Ionisches Caprix, das Element mit dem größten momentan bekannten Atomgewicht. Man benutzt sie jetzt anstelle der Rexeroid-Schaufelgeräte, die du wahrscheinlich kennst.«
»Soll die ganze Kathedrale mit dem Gerät gehoben werden?« fragte er Mali, die wieder zu ihm herabgetaucht war und ihm widerstrebend in Richtung der Maschine folgte. »Nur der Sockel«, antwortete sie.
»Und der Rest wird in Blöcke zerschnitten?«
»Ja, alles außer dem Sockel. Der Sockel ist eine massive Platte aus Deneb-3-Achat. Wäre er erst einmal in Blöcke zerschnitten, dann könnte er die ganze Konstruktion nicht mehr tragen. Deshalb die Hebemaschine.«
Sie blieb stehen. »Es ist gefährlich, so nahe heranzugehen. Du hast doch sicher schon einmal gesehen, wie ein solches Gerät arbeitet: Der Drehpunkt des Hebegerätes geht ständig vor und zurück. Jetzt laß uns bitte wieder an die Oberfläche gehen! Ich finde es hier unten ziemlich aufregend. Es ist verdammt gefährlich, so nah an die Hebeoperation heranzugehen!«
»Werden alle Blöcke abgesägt?« fragte er.
»O Gott!« sagte Mali mit müder Stimme. »Nein, nicht alle. Nur anfangs ein paar. Die Maschine ist noch nicht dabei, den Sockel zu heben. Sie wird nur in die günstigste Operationsstellung gebracht.«
»Wie groß wird die Hebegeschwindigkeit sein?« fragte er.
»Das ist noch nicht entschieden. Schau, wir sind doch noch gar nicht so weit.
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