Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Joel.
Frau Nederström war zu seinem Platz gekommen. Plötzlich griff sie nach seinem Ohr und kniff. Sie kniff so fest, daß ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Dir werd ich's zeigen«, sagte sie und ging zum Katheder zurück.
Joel starrte auf seinen Tisch. Nichts war so schrecklich, wie ins Ohr gekniffen zu werden. Das war schlimmer, als zu träumen, man stehe in Flammen. Joel wurde zornig. Aber er schämte sich auch. Und es tat weh.
Und hinter ihm saß Otto und grinste. Niemals würde Joel wieder aufsehen können vom Tisch. Er würde darauf niederstarren, bis er alt war und auf den Boden fiel und starb…
So ein Gefühl hatte er. Im tiefsten Innern wußte Joel, daß es vorbeigehen würde, daß er es vergessen würde. Es gab nichts, was nicht vorbeiging. Aber in diesem Augenblick konnte er das nicht fühlen. In diesem Augenblick saß er wie versteinert da. Wie der versteinerte Prinz in einem Märchen, der tausend Jahre lang auf den Tisch starren sollte…
Als es klingelte, verließ er als letzter die Klasse. Die anderen standen auf dem Flur und warteten auf ihn. Alle grinsten. Ganz vorn stand Otto und grinste am breitesten. Joel zwang sich, geradewegs durch die Klassenkameraden hindurchzusehen. Er ist nicht mehr Joel. Er ist auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung. General Custer konnte ihn nicht retten. Joel hat den betrunkenen Leutnant Hickock erschossen. Es war eine Tat der Selbstverteidigung. Aber es gab keine Zeugen. Jetzt sollte Joel gehängt werden. Auf dem Hügel vor den Palisaden ist der Galgen schon errichtet. Die Trommeln dröhnen. Aber Joel ist ganz ruhig. Er sieht durch die Menschen hindurch, die ihn anstarren. Er will in Würde sterben. Nicht er hat Angst. Die, die ihn sehen, haben Angst. Mit energischen Schritten geht er auf den Galgen zu und stellt sich unter den Strick. Der Henker will ihm etwas vor die Augen binden. Doch Joel schüttelt den Kopf. Dann lächelt er. Er ist ruhig. Ruhig und würdevoll will er sterben. Man wird Lieder über seine Ruhe schreiben. Seinen Mut. Und dann werden alle begreifen, daß er unschuldig war. General Custer wird das ganze Regiment versammeln und die schreckliche Wahrheit verkünden, daß Joel Gustafson unschuldig war. Zur Erinnerung an ihn wird man das Fort umbenennen. Noch heißt es Fort Jameson. In Zukunft wird es Fort Joel heißen. Jetzt legt der Henker den Strick um seinen Hals, und Joel blickt ganz ruhig über die versammelte Volksmenge. Jetzt fällt er und ist tot. Aber er sieht sie immer noch. Schreiende Menschen, die seinen Körper baumeln sehen. Er kann immer noch sehen.
Es klingelt, und die Pause ist zu Ende. Immer noch sieht Joel geradewegs durch seine Klassenkameraden hindurch. Den ganzen Tag wird er durch sie hindurchsehen… Schließlich ist der Schultag vorbei. Joel macht einen Umweg nach Hause, damit er nicht mit den Klassenkameraden gehen muß. Er geht an der Mauer hinter dem Friedhof entlang. Plötzlich bemerkt er, daß eine der hohen Kirchtüren angelehnt ist. Ohne richtig zu wissen, was er tut, geht er hin und guckt hinein. Drinnen ist es dunkel. Vorsichtig betritt er die Kirche. Er lauscht. Es ist sehr still. Lautlos bewegt er sich zwischen den Bänken. Dort vorn ist das hohe Altargemälde, das er immer betrachtet, wenn er in der Kirche ist. Er mag das Gemälde nicht. Als er kleiner war, hat er sich davor gefürchtet. Es stellt Jesus dar, wie er aufsteigt in den Himmel. Er hängt einen Meter über der Erde in der Luft. Dort unten kniet ein römischer Soldat. Er hat einen Helm auf dem Kopf, aber sein Schwert hat er verloren. Im Gegensatz zu Jesus, der ganz weiß ist, ist der römische Soldat dunkel. Hinter den Figuren zieht sich ein Gewitter zusammen. Die Wolken sind ganz schwarz. Joel geht zum Altar. So nah ist er dem Gemälde noch nie gewesen. Jetzt wird es noch größer. Es wächst. Und das Gewitter nähert sich. Die dunklen Wolken wachsen und wachsen.
Der Donnerknall dröhnt furchtbar. Joel zuckt zusammen, als ob er vom Blitz getroffen wäre. Es dröhnt zwischen den Wänden der dunklen Kirche.
Dann wird ihm klar, daß es kein Donnerkrachen war, sondern daß jemand oben auf der Galerie angefangen hat, auf der Orgel zu spielen. Er hört, daß jemand übt. Das muß Orgel-Nisse sein. Der bucklige Organist, der so kurzsichtig ist, daß er dreifache Brillengläser tragen muß. Still setzt sich Joel ans äußerste Ende einer Bank und lauscht. Immer wieder fängt Orgel-Nisse von vorn an. Es klingt mächtig und schön und erschreckend.
Weitere Kostenlose Bücher