JörgIsring-UnterMörd
es Dahlerus hin. »Mein Einberufungsbescheid. Ist heute angekommen. Sie
wissen, ich habe Frau und Kinder. Was soll aus denen werden? Meine Frau heult
sich die Augen aus. Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Da
habe ich an Sie gedacht. Sie sind ein feiner Herr. Sie kennen Göring
persönlich. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, ich flehe Sie an. Kämpfen
Sie für meine Freistellung. Auf Sie wird er hören, da bin ich mir ganz sicher.
Würden Sie das für mich tun? Ich weiß sonst nicht, wie es weitergehen soll.
Herr Dahlerus?«
Der Schwede strich sich mit einer Hand über den Hinterkopf. Was sollte er
diesem verzweifelten Menschen sagen? Wagenknecht wedelte mit dem Einberufungsbefehl
vor seiner Nase herum, seine Augen sahen aus wie die eines gejagten Tieres.
Dahlerus rang nach Worten. »Ich würde Ihnen gerne helfen, Karl, aber meine
Möglichkeiten sind begrenzt. Ich weiß, dass Ihnen das nicht weiterhilft, doch
Sie müssen versuchen, mich zu verstehen. Wenn ich glauben würde, Ihnen helfen
zu können, würde ich es tun.«
Der Oberkellner betrachtete ihn eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Dann
faltete er das Schreiben zusammen, steckte es weg und lächelte den Schweden an.
»Verzeihen Sie meinen Überfall. Natürlich verstehe ich das. Sie können sich
nicht um jeden kümmern. Und es ist nicht Ihre Schuld. Bitte schlafen Sie wohl,
Herr Dahlerus. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Er gab dem Schweden die Hand und
verschwand.
Dahlerus sah ihm hinterher. Gerade als er die Tür
schließen wollte, hörte er, wie jemand nach ihm rief und ging zurück auf den
Flur. Zwei Kellner und ein Rezeptionist kamen auf ihn zu.
»Herr Dahlerus, bitte warten Sie einen Moment.«
»Ja?«
Die drei jungen
Männer stellten sich vor und schilderten ihr Anliegen. »Glauben Sie, es lässt
sich noch etwas machen? Franz hier hat sich gerade ein kleines Häuschen
gekauft, und ich habe die ganzen letzten Jahre eifrig gespart. Wir wissen
nicht, was wir tun sollen. Ein Krieg würde alles gefährden, was wir aufgebaut
haben. Wir wollten Ihren Rat, Herr Dahlerus. Sie wissen am besten, wie es
steht.«
Der Schwede antwortete, so gut er konnte. Als die drei Männer gegangen
waren und er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er tief durch. Die
Menschen glaubten noch an ihn, das berührte ihn zutiefst. Aber das Verhängnis
nahm seinen Lauf, und er war nicht in der Lage, es aufzuhalten.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Er ließ sie laufen, fing an zu zittern,
verkrampfte sich. Er schluchzte, rotzte, heulte, fiel auf die Knie. Nach vorne
gebeugt weinte er, bis keine Tränen mehr kamen. Erschöpft ließ er sich auf den
Teppich fallen, lag einfach nur da. Sein Kopf war vollkommen leer. Er schlief
wie ein Toter.
35.
Potsdam
1. September Odas Jagdhütte, später Vormittag
Krauss kam nicht zur Ruhe. Seine Wunde brannte, doch den Schmerz hätte er
ausblenden können. Was ihn trotz der kräftezehrenden Nacht nicht schlafen
ließ, war die Ungewissheit. Darüber, wie es weitergehen sollte. Natürlich war
er froh, den Jungen wieder in seiner Obhut zu haben. Aber es stellte ihn auch
vor neue Probleme. Er war nun wieder für Philipps Sicherheit verantwortlich,
und er wusste nicht, wie er sie garantieren sollte. Er wusste kaum für seine
eigene Sicherheit zu sorgen, geschweige für die eines Kindes, das von der
nationalsozialistischen Elite gejagt wurde.
Deshalb zerbrach Krauss sich seit Stunden den Kopf. Draußen war es längst
hell und das grelle Licht ein weiterer Grund, weshalb er nicht abschalten
konnte. Er hatte sein Nachtlager auf dem Sofa vor dem großen Fenster zur
Lichtung aufgeschlagen, seinem Lieblingsplatz in der Hütte. Oda lag mit dem
Jungen im Bett. Philipp hatte bisher kein Wort gesprochen, reagierte aber auf
sie. Er schien Oda zu vertrauen. Sie hatte etwas Ernstes an sich, etwas
Verbindliches. Göring war darauf angesprungen, Edgar und schließlich auch er
selbst. Nun fühlte sich Philipp zu ihr hingezogen. Je mehr Krauss darüber
nachdachte, desto mehr gefiel ihm der Gedanke.
Allmählich kristallisierte sich aus dem Durcheinander in seinem Kopf eine
brauchbare Idee.
Er hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer leise knarrte. Oda schaute
vorsichtig übers Sofa, sah, dass er wach war. Sie setzte sich zu ihm. »Philipp
schläft.«
»Das ist gut.«
Oda nickte. »Was macht die Wunde?«
»Geht schon.«
»Lass mich mal sehen.«
»Nicht nötig.«
»Stell dich nicht so an, Richard. So etwas kann sich leicht
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