John Corey 01 - Goldkueste
wird - seit 1870 von den Claudios. Wie mir ein Barkeeper erzählt hatte, war die Bar, in der Emma und ich jetzt saßen, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit einem Schleppkahn aus Manhattan hertransportiert worden.
Diese Bar aus Mahagoni, geschliffenem Glas und italienischem Marmor wirkt leicht fremdartig, exotisch und sehr anders als der nachgemachte hierzulande vorherrschende Kolonialstil. Hier konnte ich mir wieder einbilden, in Manhattan zu sein - vor allem wegen des aus dem Restaurant her über wehenden Dufts italienischer Gerichte. Manchmal hatte ich Sehnsucht nach Manhattan und vor allem nach Little Italy, wo zum Beispiel heute in der Mulberry Street das Fest des heiligen San Gennaro stattfand. Das erinnerte mich wieder daran, dass ich bald ein paar Entscheidungen über meine Zukunft würde treffen müssen.
Als Emma sich ein Glas Weißwein bestellte, sagte der Barkeeper: »Wir schenken sechs hiesige Weine offen aus. Möchten Sie einen bestimmten?“
»Ja... Pindar«, antwortete sie.
Braves M ädchen! Treu und loyal. Trinkt in Gegenwart ihres neuen Verehrers nicht den Wein ihres Exgeliebten.
Ich bestellte ein Budweiser, und wir stie ßen an. »Noch mal vielen Dank für alles«, sagte ich.
»Welche Geschichtslektion hat dir am besten gefallen?«
»Die auf der Federmatratze.«
»Mir auch.«
Und so weiter.
An den W änden hingen viele Erinnerungsstücke: Schwarz weißfotos von den Vorfahren der heutigen Besitzer, vergilbte Aufnahmen von Segelregatten, alte Straßenszenen aus Greenport und dergleichen. Ich mag alte Restaurants - sie sind gewissermaßen lebendige Museen, in denen Bier ausgeschenkt wird.
Hier hatte ich im vergangenen Juni die Gordons kennengelernt, was außer meiner Vorliebe für italienische Küche einer der Gründe dafür war, dass ich auch heute zu Claudio's hatte gehen wollen. Manchmal nutzt es, in eine bestimmte Umgebung zurückzukehren, um sich an das, was dort passiert ist, zu erinnern.
Ich war hierhergekommen, weil Claudio's zu den wenigen Lokalen geh örte, die ich kannte. Ich fühlte mich noch ziemlich klapprig, aber nichts hilft einem besser auf die Beine als eine Bar und ein Bier.
Nachdem ich mir wie üblich ein Budweiser bestellt hatte, sah ich ein paar Hocker weiter eine sehr attraktive Frau sitzen. An jenem regnerischen Montagabend in der Vorsaison waren nicht viele Gäste in der Bar. Ich suchte also Blickkontakt mit ihr, und als sie mein Lächeln erwiderte, ging ich zu ihr hinüber. »Hi«, sagte ich.
»Hallo«, antwortete sie.
»Ich heiße John Corey.«
»Judy Gordon.“
»Sind Sie allein?«
»Ja - bis auf meinen Mann, der auf der Toilette ist.«
»Oh...«Jetzt bemerkte ich auch ihren Ehering. Warum konnte ich nicht von Anfang an auf den Ehering achten? Nun, auch verheiratete Frauen, die allein sind... aber ich schweife ab. »Ich gehe und hole ihn«, bot ich ihr an.
Sie l ächelte. »Laufen Sie nicht weg«, sagte sie.
Ich war verliebt, aber ich murmelte tapfer: »Bis demnächst mal.« Bevor ich zu meinem Barhocker zurückgehen konnte, kreuzte Tom auf, und Judy machte uns miteinander bekannt.
Als ich eigentlich schon beschlossen hatte zu gehen, forderte Tom mich auf, noch ein Bier mit ihnen zu trinken. Ich hatte keine rechte Lust dazu, weil es mir ein bisschen peinlich war, dass ich mich an seine Frau herangemacht hatte. Aber aus irgendeinem Grund, den ich nie ganz verstehen werde, be schloss ich, dieses eine Bier mit ihnen zu trinken.
Nun, ich kann schweigsam sein, aber diese jungen Leute aus dem Mittleren Westen waren so herzlich und offen, dass ich ihnen schon bald von meinem mir widerfahrenen Missgeschick erzählte. Sie erinnerten sich an die Fernsehberichterstattung über meinen Fall. In ihren Augen war ich eine Berühmtheit!
Die Gordons erw ähnten, dass sie auf Plum Island arbeiteten, was ich interessant fand, und gleich nach der Arbeit mit ihrem Boot herübergekommen waren, was ich ebenfalls interessant fand. Tom hätte mir ihr Boot gezeigt, aber ich lehnte dankend ab, weil Boote mich weniger interessierten.
Als die Rede darauf kam, dass ich in einem Haus an der Bay wohnte, wollte Tom wissen, wo es lag, und forderte mich auf, es von der Wasserseite her zu beschreiben. Das tat ich, und zu meiner Überraschung kreuzten Judy und er eine Woche später tatsächlich bei mir auf.
Jedenfalls hatten wir uns in Claudio's ausgezeichnet ver standen und eine Stunde sp äter gemeinsam zu Abend gegessen. Das war ungefähr ein Vierteljahr her - kein
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