John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
die alle mit dem Gastgeber plaudern wollten. Ein Gentleman kam ihr irgendwie bekannt vor, und er überflog sie mit einem wissenden Blick. Sie brauchte einen Moment, bis ihr wieder einfiel, dass es sich dabei um den Pferdenarren handelte, dem sie auf dem Ball des Premierministers begegnet war. Sie lächelte ihm zu und erkundigte sich, wie seine Pferde im letzten Rennen abgeschnitten hätten.
»Jetzt liegt er Ihnen zu Füßen bis an sein seliges Ende«, bemerkte Ronsard beim Weitergehen. »Er geht jedem mit seinem Pferdegeschwätz auf die Nerven.«
»Ich mag Pferde«, entgegnete sie ernst. »Und es macht auch nicht mehr Mühe, zu jemandem nett zu sein als gemein zu sein.«
Es dauerte etwas, von der einen Seite der riesigen Villa in die andere zu gelangen, noch dazu, wo sie andauernd aufgehalten wurden. Schließlich jedoch erreichten sie seinen Privatflügel, der von einer schweren hölzernen Doppeltür bewacht wurde. »Meine Suite liegt hier«, erklärte er und deutete auf eine weitere Doppeltür zur Linken. Er zeigte ihr ein überraschend gemütliches Wohnzimmer, ein kleines Heimkino, ein riesiges Spielzimmer voller Spielsachen und Gesellschaftsspiele, eine Bibliothek, die so mit Büchern voll gestopft war, dass Niema bezweifelte, ob auch nur noch eins in die Regale ginge. Es waren Romane und Sachbücher, dazwischen eine erstaunliche Anzahl von Kinderbüchern.
»Das ist eins von Laures Lieblingszimmern«, sagte er. »Sie liest für ihr Leben gern. Natürlich ist sie mittlerweile zu alt für Märchen und Hanni und Nanni, aber ich sorge dafür, dass immer genügend Lesestoff für ihr Alter da ist.«
»Wie alt ist sie denn eigentlich?«
»Zwölf. Ein ganz entzückendes Alter. Halb Kind, halb kleine Erwachsene. Sie kann sich nicht recht entscheiden, ob sie noch mit ihren Puppen spielen oder mit Lippenstift experimentieren soll. Den Lippenstift habe ich ihr für noch mindestens ein Jahr verboten«, erklärte er lächelnd.
Er wandte ihr das Gesicht zu, das Lächeln noch um die Lippen, doch in seinen Augen stand ein entrückter Ausdruck. »Laure ist klein für ihr Alter«, sagte er, den Blick nach innen gerichtet. »Sehr klein. Ich möchte Sie vorwarnen. Sie ist … nicht sehr gesund. Jede Minute mit ihr ist wie ein Gottesgeschenk für mich.«
Seltsam, solche Worte aus dem Mund eines Mannes wie Ronsard zu hören, andererseits vielleicht auch nicht. Er öffnete die Tür zu einem so wunderschönen, fröhlichen Raum, dass Niema beim Eintreten unwillkürlich den Atem anhielt.
»Papá!«
Eine junge, süße, kristallklare Stimme. Man hörte ein Sirren, und dann kam sie in einem elektrischen Rollstuhl auf sie zu, ein winziges Püppchen mit einem ausdrucksstarken Gesicht und einem Lächeln, das die Welt erhellte. Hinten an der Lehne des Rollstuhls war ein Sauerstofftank befestigt, von dem zwei durchsichtige Röhren bis zu ihren Nasenlöchern gingen. Die Schläuche waren mit einem schmalen Stirnband fixiert.
»Laure.« Seine Stimme war voll unendlicher Zärtlichkeit. Er beugte sich vor und küsste sie. Er sprach Englisch. »Das ist meine gute Freundin, Madame Jamieson. Niema, das ist mein Herz, meine Tochter Laure.«
Niema beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Freut mich sehr, dich kennen zu lernen«, sagte sie, ebenfalls auf Englisch.
»Ganz meinerseits.« Das junge Mädchen schüttelte Niemas Hand; ihre Finger, die Niema ganz vorsichtig umschloss, wirkten unendlich klein und zerbrechlich. Ronsard hatte gesagt, seine Tochter wäre zwölf, aber sie besaß die Größe einer Sechsjährigen und wog wohl nicht mehr als fünfundzwanzig Kilo. Sie war sehr, sehr dünn, und ihre bleiche Haut besaß einen bläulichen Schimmer. Sie hatte Ronsards Augen, dunkelblau und wachsam, und das Lächeln eines Engels in einem Alabasterantlitz. Ihre Haare waren hellbraun, seidig weich und mit einer hübschen Schleife zurückgebunden.
Ihr kleiner Mund war mit Lippenstift bemalt.
Ronsard merkte es zur selben Zeit wie Niema. »Laure!«, rief er entrüstet. Er stemmte die Hände in die Hüften und bedachte sie mit einem strengen Blick. »Ich habe dir doch verboten, Lippenstift zu benutzen.«
Sie musterte ihn mit einem Blick, als würde er sowieso nie kapieren. »Ich wollte hübsch aussehen, Papá. Für Madame Jamieson.«
»Du bist schön, so wie du bist; du brauchst keinen Lippenstift. Du bist zu jung, um dich schon zu schminken.«
»Ja, aber du bist doch mein Papá«, erklärte sie mit unwiderlegbarer Logik. »Für dich bin ich
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