John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
niemals auf einem Ball mit ihnen blicken lassen. Sie hatte einen hervorragenden, eher klassischen Geschmack, was ihre Kleidung betraf, und erschien stets in tadelloser Aufmachung, egal um welche Tageszeit.
»Wieso konntest du nicht eine Schlampe sein?«, fragte sie unwirsch brummend ihren Zwilling.
Erneut untersuchte sie ihr Abendkleid. Es war von raffinierter Schlichtheit, selbst mit den baumelnden Perlenschnüren, deren mitternachtsschwarzer Glanz das Auge auf sich zog. Sie hob die Hand und schnippte die Schnüre an. Diese Dinger würden andauernd die Blicke auf ihren Busen lenken.
Sie schaute die schwarzen Sandalen an, dann erneut die Perlenschnüre. Neugierig untersuchte sie die Sonne aus schwarzen Perlen. Die Perlenschnüre waren nicht an der Sonne befestigt, sondern darunter.
»Schon besser«, murmelte sie, erhob sich und holte ihr Werkzeug. Sie wusste natürlich, warum sie es gar so mit der Schuhfrage hatte: um nicht an John denken zu müssen und das, was er über Gespieltes und Nicht-Gespieltes gesagt hatte. Was sollte sie davon nun wieder halten? War sie damit gemeint oder vielleicht etwas ganz anderes? In seiner Vergangenheit gab es so vieles, dass er buchstäblich alles gemeint haben konnte. Manche Kerle führten ein ganz einfaches Leben, hatten nicht mehr zu verbergen als die Anzahl der Biere auf dem Nachhauseweg. Johns Vergangenheit dagegen war so verschlossen und verwinkelt, dass wohl niemand je genau wissen würde, was ihn zu dem gemacht hatte, der er war.
Aber ihr Fimmel mit den Schuhen verfehlte offensichtlich seinen Zweck, denn sie konnte einfach nicht aufhören, über ihn nachzudenken. Dallas zu verlieren war schwer genug gewesen, fast mehr als sie ertragen konnte; wie musste es da erst für John gewesen sein, der nicht nur seine Frau verloren hatte, sondern obendrein durch eigene Hand? Sie versuchte, ein wenig Mitleid für seine Frau zu empfinden, irgendetwas, doch es gelang ihr nicht. Diese Frau hatte ihr Land verkauft und den Tod von vielen verschuldet. Niemas Ansicht nach unterschied sie sich damit kaum von den Terroristen, die mit Giftgas oder Bomben Menschenleben beendeten. Dallas hatte versucht, Leuten wie ihr das Handwerk zu legen.
Heute Abend mochte das letzte Mal sein, dass sie John je sah.
Mit diesem Gedanken beständig im Hinterkopf, arbeitete sie an den Sandalen, benutzte den Klebstoff aus ihrer Werkzeugtasche, um die Perlen an den Riemchen anzukleben. Es war nicht das erste Mal, dass sie glaubte, ihn zum letzten Mal zu sehen: als er verschwand, kurz bevor sie in Frankreich eintraf, als er nur eine Stimme am Telefon war, bevor sie die Einladung in die Villa erhielt. Aber dieses Mal war anders, definitiver. Sobald er die Computerdateien hatte, würde er umgehend verschwinden.
Sie dagegen würde bis zum Ende der Hausparty bleiben und wie geplant abreisen. Nächste Woche um diese Zeit wäre sie bereits wieder daheim, bei ihrer alten Arbeit, und das hier wäre nur eine fantastische Geschichte, die sie niemandem erzählen konnte.
Aber vorläufig fühlte sie sich unglaublich lebendig, mehr als je zuvor in ihrem Leben. Selbst ihre Haut war sensibler als je zuvor. Sie nahm ein langes, entspanntes Bad mit dem Badesalz, das sie dort vorgefunden hatte, und wusch sich die Haare. Danach machte sie sogar ein kleines Mittagsschläfchen, etwas, das bei ihr so gut wie nie vorkam, aber die Ereignisse des Tages hatten sie erschöpft. Danach lackierte sie Finger- und Zehennägel scharlachrot. Auch wenn sie John nie wieder sehen sollte, bei Gott, er sollte sich an sie erinnern.
Sie wollte nicht noch einmal extra auf ihr Zimmer gehen müssen, um ihr Werkzeug zu holen, doch ebenso wenig konnte sie alles in dem jämmerlich kleinen Abendtäschchen unterbringen. Darin war nur Platz für eine Kreditkarte, Lippenstift und Puder und den Zimmerschlüssel. Das war alles. Sie überlegte, ob sie die Pistole und das Werkzeug irgendwo anders verstecken könnte, doch kannte sie das Haus dafür nicht gut genug. Außerdem wimmelte es überall von Leuten.
Es half nichts: Sie musste noch mal hier heraufkommen, um die Sachen zu holen. Sie wickelte alles, Pistole und Werkzeug, in die Seidenstola, die zu ihrem Kleid gehörte, und versteckte das Paket unter ihrer Unterwäsche in einer der Schrankschubladen. Danach holte sie tief Luft, straffte die Schultern und machte sich für den letzten Akt des Schauspiels bereit.
Er wartete bereits am Fuß der Treppe auf sie, richtete sich auf, als sie auftauchte, und seine
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