John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
musste nicht lange überlegen.
Allerdings erkannte er zu spät, dass es einfacher war, in die Spionage einzusteigen, als wieder auszusteigen. Denn der Oberst kam auch einen Monat später und dann wieder einen Monat später, um von ihm jedes Mal mehr zu fordern. Nun wünschte Kahn, er hätte seine Strafe zu Beginn erhalten, anstatt Schritt für Schritt den Abhang hinunterzusteigen. Dreimal hatte er sich schon die Pistole in den Mund geschoben
und gewünscht, genug Mumm zu haben, um den Abzug zu drücken. Aber er tat es nicht. Mittlerweile musste er darauf achten, die Chinesen bei Laune zu halten. So füllte er zweimal pro Monat einen Flash Drive mit Akten, zu denen er Zugang hatte, und leitete diese an den chinesischen Nachrichtendienst weiter.
Diesmal befand sich unter den Akten auch Cao Ses Notiz, in der er die Agency um ein Treffen ersuchte. Selbstverständlich hatte Se in der Botschaft nicht seinen Namen genannt. Dennoch zeigte sich ihre Bedeutung, sobald sie übersetzt war. Innerhalb weniger Stunden erreichte sie Baije.
Li las die Nachricht nochmals, um sie auch sicher zu verstehen. Ein chinesischer Spion mit dem Codenamen Ghost ersuchte um ein sofortiges Treffen mit einem CIA-Führungsoffizier, der noch nie in China gearbeitet hatte. »Wie ist das möglich?«, sagte Li mehr zu sich als zu Baije. Er war sicher gewesen, dass sein amerikanischer Maulwurf alle CIA-Spione in China ausgerottet hatte. Aber er hatte sich geirrt.
Dennoch, wer dieser Spion auch war, wusste er offenbar nicht, dass der chinesische Geheimdienst auch in die Botschaft vorgedrungen war. In der Nachricht waren Zeit und Ort des Treffens eindeutig festgehalten.
»Selbstverständlich könnte es sein, dass die Amerikaner nicht reagieren«, sagte Baije. »Immerhin wissen sie, dass wir sie unterwandert haben. Vielleicht glauben sie, dass wir auch ihren Ghost als Doppelagent angeworben haben.«
»General Baije«, sagte Li, während er dem kleineren Mann den Finger an die Brust legte. »Sie sollten mir nicht sagen, was die Amerikaner möglicherweise tun oder nicht tun. Sagen Sie mir lieber, dass unsere besten Agenten bereits den
Treffpunkt überwachen. Sagen Sie mir, dass unsere Männer jeden Amerikaner verfolgen, der diese Woche nach Peking kommt. Sagen Sie mir, dass wir diesen Agenten schnappen werden, und diesen Verräter, der ihm hilft. Das sind die einzigen Worte, die ich von Ihnen hören will.«
29
Noch ehe Wells das Zentrum von Peking erreichte, fühlte er die Spannung eines herannahenden Kriegs auf den Straßen der gigantischen Stadt. Von Überführungen hingen überdimensionale Banner in Chinesisch und Englisch herab: »China hält zusammen!« »Die USA werden es bereuen!« Eine zerfetzte amerikanische Flagge flatterte am Skelett eines halb fertigen Büroturms, während die Flagge der Volksrepublik, die fünf gelben Sterne auf blutrotem Grund, an jedem Auto und Lkw wehte.
Als sein Taxi von der Flughafenautobahn auf die dritte Ringstraße einbog, die Peking umrundete, sah Wells ein Dutzend mobiler Flugabwehrraketenbatterien, deren grün gestrichene Raketen in alle Richtungen wiesen. Hunderte Chinesen umringten die Abschussbasen, machten Fotos und salutierten vor den Soldaten der Volksbefreiungsarmee in ihren sauberen Uniformen. Ihre Erregung war spürbar. Sie boten den USA die Stirn. Bald würde die Show beginnen. Dies musste die Stimmung vor der ersten Schlacht am Bull Run gewesen sein, dachte Well. Damals hatte sich die Menge versammelt, um zuzusehen, wie die Republikaner gegen die Jungs der Union kämpften, bis sich Entsetzen breitmachte, als der prunkvolle Aufmarsch endete und das Blut zu strömen begann.
Abgesehen von den Flaggen und Bannern schien das Leben
in Peking ruhig weiterzulaufen. Der Officer der Einwanderungsbehörde am Flughafen von Peking hatte weder Wells noch die anderen Amerikaner, die aus San Francisco gekommen waren, besonders feindselig behandelt. Auch der Taxifahrer vor dem Flughafen hatte keinerlei Ärger erkennen lassen, als Wells ihn aufforderte, zum St. Regis zu fahren, einem Fünfsternehotel in der Nähe der amerikanischen Botschaft, das von Amerikanern bevorzugt wurde. Überall hämmerten Arbeiter an neuen Gebäuden, und der Verkehr war schlimmer als alles, was Wells je gesehen hatte. Im Vergleich dazu waren die angeblich viel befahrenen Straßen von Washington wahre Rennstrecken.
Als das Taxi erneut stecken blieb, warf der Fahrer durch den Rückspiegel einen Blick auf Wells.
»Woher?«
»Kalifornien.«
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